Sein Ziel?
Der Mann mit den grünen Schuhen ohne Schnüre, der immer am Bahnhof hockt, kaut auf seinem Zeigefinger und beobachtet Leute. Menschen mit 4 Koffern, obwohl sie nur für ein Wochenende mit dem Nachtzug nach Venedig fahren oder Menschen, die sich eine Leberkäsesemmel kaufen und danach wieder heim gehen. Es ist alles bunt und schnell und kurz, die Leute steigen aus und ein und der dicke Schaffner pfeift und dann sind die Züge auch schon fort. Er schaut sich um, alle eilen vorbei, mit einem Ziel im Kopf, und sein Ziel?
Plötzlich Zeitlupe.
Der Mann dreht sich nach rechts und sieht einen weinenden Buben am Boden hocken. Sein Weinen ist laut und unecht, so als würde er nur weinen, damit er dann im Zug fernsehen darf. Seine kleinen Tränen kullern langsam auf sein graues Stoffschaf, das auf seinem Schoß sitzt, wahrscheinlich ist es schon ganz salzig. Doch dann nimmt ihn die Frau die über ihn gebeugt steht liebevoll in den Arm und streicht ihm die tränenverklebten Haare aus dem kleinen Gesicht. Dann hört der Junge auf zu weinen, weil er jetzt vermutlich weiß, dass er im Zug fernsehen darf. Der Mann trinkt seinen grausigen Kaffee aus, schmeißt ihn in die vollgestopfte Mülltonne, die aussieht, als würde sie gleich platzen, und steht auf.
Zeitraffer.
Als er am Gleis entlang geht, fühlt er sich so, als würden alle Menschen und Züge an ihm vorbeirasen wie eine Coca-Cola-Brausetablette-Bombe und sieht nur noch verschwommene Gesichter und keine Geschichten mehr. Auf seiner Haut bilden sich klitzekleine Schweißpartikel, die brüllende Sonne knallt jetzt draußen auf den Asphalt. Er nimmt schwarzweiße Töne wahr, die brutal auf seine Ohren einhämmern. Die Stadt ist heiß und klebrig und elektrisiert voller Hochsommerluft. Er stolpert in die Straßenbahn, wo dehydrierte Kleinkinder laut sind, und alte Damen alle Plätze besetzen und rast an 13 Haltestellen vorbei, bis er erschöpft an seiner Destination ankommt. Eingebettet in seine mit Fragen vollgestopfte Wahrnehmung sieht er andere graue Menschen an ihm vorbeihuschen und auf einmal ist ihm übel.
Pausenknopf.
Plötzlich hält jeder in seinen blitzschnellen Bewegungen inne und bleibt stehen. Der Mann kneift die müden Augen zusammen und leckt sich den Schweiß von der Oberlippe. Wie sie alle auf ihre Uhren schauen, in der Mittelmäßigkeit verharren. In seinem Kopf spielt Schwanensee während er das verschwommene Bild vor seinen Augen betrachtet und versucht es zuzuordnen. Morgen ist dann wieder Mittwoch und dann ist die Woche schon wieder fast vorbei, die dreiunddreißigste im achten Monat im zweitausendfünfundzwanzigsten Jahr, in dem einem die Sekunden durch die Finger rinnen und der Mann sich ärgert, weil er mehr hätte tun können. Seine Obsession mit der verstreichenden Zeit lässt ihn miserabel fühlen und er muss sich sehr beherrschen, nicht aufzustehen, die Menschen wieder weitergehen zu lassen und zum Bahnhof zurückzukehren. Er tut es dann doch. Still und vorsichtig.
Jetzt.
Er muss seinem Ziel nachgehen.
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