Silvester
Ihr sonst so geordnetes Haar peitschte umher. Der Schnee brach unter seinen Schritten. Sie schenkte ihm keinen Blick. „Ich wollte mich verabschieden.“ Ihre wildgewordenen Haare strichen über sein Gesicht. Auffordernd und gleichzeitig bittend. Aber das bildete er sich wahrscheinlich nur ein. „Du gehst?“ Er bemühte sich um keine Emotion, doch in seinem Inneren erwachte die Panik. Ihr Blick galt noch immer der erleuchteten Stadt vor ihnen. „In 8 Minuten ist Mitternacht.“ Diese knappe, zusammenhanglose Antwort ließ ihn das Geländer fester umfassen. Er hatte fast schon Angst vor ihren Worten. „Kira…“ Sie schloss die Augen, als würde alleine ihr Name ihr Schmerzen bereiten. „Ich werde mich nicht umbringen, du Trottel.“ Er zwang sich nicht zu lachen. „Ich fange neu an.“
Und schon war Kira wieder ernst. Eine völlige Neuheit für ihn. „Wie, neu?“, hakte er nach, suchte verwirrt ihren Blick. Und diesmal sah sie an. Der Ausdruck in ihren Augen war ihm völlig fremd. „Ich verlasse die Stadt, den Staat, das Land, was weiß ich. Ich würde sogar diesen Planeten verlassen, wenn es helfen würde.“ Sie drehte der Stadt den Rücken zu und lehnte sich an das Geländer. Die Arme locker vor der Brust verschränkt. „Ein neuer Name, eine neue Geschichte. Keine Kira Bennett mehr.“ Er schwieg, unfähig ein Wort zusammen zu bekommen. Diesmal suchte sie seinen Blick und fand in den dunklen Augen die unausgesprochene Frage. „Warum? Weil Kira Bennett kaputt ist.“ Mit dem Fuß begann sie den Schnee wegzuschieben.
„Zerstört durch all die Anforderungen und Menschen in ihrem Umfeld. Für ihren Vater war sie nicht Tochter genug, nicht erfolgreich oder verschwiegen genug.“ Es fing wieder an zu schneien. Mit einem abfälligen Schnalzer sah sie auf. Er schwieg weiter, beobachtete sie mit dunklen Augen. Der Schnee blieb in ihren langen Wimpern hängen, die eleganten Lippen zeigten kein Lächeln. Wie gern hätte er diese berührt. „Für ihren Arsch von Freund war sie nicht schön oder einzigartig genug. Oder aufgeschlossen genug. Sie war nicht stark genug um ‚Nein‘ zu Fehlern zu sagen und nicht ehrlich genug, um Menschen wie dich bei ihr zu halten.“ Den Kopf in den Nacken gelegt ließ sie den Schnee auf sich herunter fallen.
„Kira Bennett war nicht gut genug für alle. Nicht perfekt genug.“ Wie gerne würde er ihr widersprechen, doch kein Wort kam über seine Lippen. Er konnte ihr nicht widersprechen. Weil es die Wahrheit war. „Tu mir einen Gefallen“, murmelte sie. „Such mich nicht.“ Konnte er das? Sie einfach so gehen lassen? Die Stadt erwachte. Glocken erklangen, bunte Lichter explodierten am Himmel. „Mitternacht. Mach die Augen zu und wünsch dir was.“ Sie sah ihn wieder an. Er schwieg und schloss nach einigen Sekunden die Augen. Die Berührung war federleicht. Ihre Lippen schmeckten nach Kirsche. „Frohes neues Jahr“, murmelte sie hauchzart an sein Ohr. Seine Augen blieben geschlossen, auch als der Schnee unter ihren Schritten brach und die Tür zum Treppenhaus ins Schloss fiel. Er lächelte. Das war genug.
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