So kann man sich täuschen
Mit zittrigen Händen hob der alte Mann das zerknitterte Blatt Papier auf, ein Familienerbstück, das von Generation zu Generation weitergereicht worden war. Es sollte die neuen Generationen daran erinnern, wie die Welt hätte aussehen können, stammend aus einer Zeit, in der die Menschen noch Hoffnungen und Träume gehabt hatten. Es war bloß der Aufsatz eines 10-jährigen Jungen, der nichts weiter wollte, als seine Hausaufgaben schnellstmöglich zu erledigen, um seine Aufmerksamkeit dann seiner Meinung nach interessanteren Dingen zu widmen. Er hätte nicht ahnen können, dass es genau dieser Aufsatz war, mit dem man ihn noch Jahrhunderte später in Verbindung bringen würde.
Der Mann holte tief Luft, und begann zu lesen, ein letztes Mal wanderten seine Augen über die Zeilen, die sich bereits tief in seinem Gedächtnis verankert hatten.
„Ich bin mir nicht sicher, wie die Welt in 50 Jahren aussehen wird. Oma meint, dass sie da sicher schon eine Medizin gegen Krebs gefunden haben werden, weswegen sie auch bestimmt nicht mit dem Rauchen aufhören wird. Es kann doch nicht so schwierig sein, ein Heilmittel für eine so weitverbreitete Krankheit zu finden. Meine Mama glaubt, dass es in mehreren Jahren so etwas wie Weltfrieden geben wird. Sie denkt, dass die Menschen eventuell erkennen werden, dass es besser ist zu verhandeln, als sich unnötig zu bekämpfen, da es am Ende vom Krieg nur Verlierer gibt. Mein Papa denkt, dass so etwas wie Weltfrieden zwar derzeit noch nicht möglich sei, aber bald, da er denkt, dass die Menschen immer schlauer werden. Er denkt, dass es bald einen großen Fortschritt in der Technologie geben wird, und dass die Menschen damit Großartiges vollbringen werden. Ich persönlich denke, dass in 50 Jahren alles besser sein wird. Ich glaube, irgendjemand wird Hausaufgaben abschaffen, und ich denke auch, dass ich das vielleicht höchstpersönlich tun sollte. Ich denke auch, dass die Welt mit der ganzen Technologie, von der jetzt jeder so begeistert ist, viel schöner und vielseitiger sein wird.“
Der alte Mann seufzte und blickte von dem Blatt auf. Verkrampft starrte er aus dem Fenster, hinaus in die Welt, die durch diese sogenannte „Technologie“ nun bald kaum noch zu beleben sein würde. Kein Wunder, bei dem Anblick, der sich ihm bot. Er musste nicht dort draußen zu sein, um zu wissen, dass der chemische Gestank einem die Schleimhäute wegätzte, trug man keine Sauerstoffmaske. Er hätte so gerne für diese Welt gekämpft, wollte so gerne für diese Welt kämpfen, die, wie er aus Erzählungen wusste, einst so schön wie das Paradies gewesen war, mit farbprächtigen Landschaften, tiefblauen Meeren und weißen Sandstränden. Manchmal konnte er es selbst kaum glauben. Eine Welt, in der noch atmende Wesen gelebt hatten, abgesehen von den Menschen. Doch diese Chance hatte er nicht mehr. Es hatte sich schon vor Generationen entschieden, dass diese Welt, wie wir sie kennen, dem Untergang geweiht war. Denn der Sauerstoff wurde knapp.
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