SOMMERREGEN
Es ist Sommer und es riecht nach Regen. Ich kralle mich fester an der Jacke meines Bruders fest. Ziehe ihn zurück. Ich will schneller sein als er. Schon von weitem kann ich erkennen, dass oben auf dem Hügel, inmitten all des ungemähten Grases nur eine freie Schaukel ist. Ich höre ihn neben mir kreischen: „Festhalten ist unfair!“ Kurz blicke ich nach unten, wo Mama seufzend hinter uns her trottet. Unsere unhaltbare Begeisterung tut sie kopfschüttelnd ab. Viel zu lange ist es her, dass sie unsere Euphorie erlebt hat. Als wir schließlich lachend, prustend, keuchend-, oben angelangen und mein Bruder neben der Schaukel das Wespennest im Sandkasten erblickt, das er gestern schon zuzugraben versucht hat, hat er die Schaukel ganz vergessen. Triumphierend lasse ich mich auf dem schwarzen Kunststoff nieder. Dummkopf! In der Ferne sehe ich Mama hektisch winken. Nein, nicht winken! Sie hält etwas in der Hand! Eine Packung Tempos! Es dämmert mir langsam, dass ihre zusammengepressten Lippen und der energische Gang kein Zeichen der Freude über meinen außerordentlichen Triumph ist. Sie wollte die Schaukel abtrocknen. Die regennasse Schaukel. Kurz überlege ich, ob ich aufstehen soll und sie jetzt, damit sie glücklich ist, die Schaukel abtrocknen lasse. Doch dann, entscheide ich mich dagegen. Die Tempos kann sie behalten!
Es ist Sommer und es riecht nach Regen. Es ist Jahre her, seit ich das letzte Mal hier war. Seither habe ich all das getan, was ich schon immer wollte. Reisen, studieren, mich neu erfinden, endlich ich selbst sein. Ich keuche kaum noch, als ich den steilen Hügel hinaufgehe, so erwachsen, so langsam-gehend, bin ich geworden. Das kleine Mädchen von damals würde mich wohl auslachen. Ich fühle mich, inmitten meiner ganzen Erfolge schuldig. Habe ich mein eines, wahres Ich inmitten all des Ruhms und des Erwachsenseins vielleicht doch verraten? Während ich durch das ungemähte Gras auf meine Schaukel zu stapfe, erkenne ich, wie sehr ich mich verändert habe. Irgendwie hatte ich gedacht, dass ich die Ausnahme bin. Dass ich, wie meine Schaukel, der Fels in der Brandung der Zeit sein kann. Dass all das Tempo um mich herum, mir, solange ich nur ich bin, nichts anhaben kann. Sicher, ich würde erwachsen werden, aber mich verändern? Niemals! Und jetzt könnte ich fast laut auflachen, so naiv und hochmütig kommt mir der Gedanke vor. Doch je näher ich der Schaukel komme, desto mehr verstehe ich eine irgendwie beinahe universelle Wahrheit: Ich bin so viel mehr als nur ich allein. Wir alle sind das wohl irgendwie. Wir sind keine unveränderbaren Felsen. Wir sind die Orte, die wir lieben, die Menschen, die uns prägen und die Lieder, die wir leise summen, wenn draußen im Garten der erste Schnee liegt. Und wenn sich alles um uns verändert, wie töricht ist es dann von uns, zu glauben, dass wir dieselben bleiben könnten?
Ein bisschen gedankenverloren und auch irgendwie nostalgisch ziehe ich ein Tempo aus meiner Tasche. Ich trockne die regennasse Schaukel ab.
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