Sonntagsfragen
Herbst
Ein Sonntag
Er steht früh auf heute.
Alle sagen, es ist ein wichtiger Tag.
Er überspringt das Frühstück und landet auf der Straße.
Es hinter sich bringen, so lautet sein Credo.
Aufkommende Gedanken wischt er fort noch bevor sie ihn befallen.
Er will nicht groß nachdenken, nicht heute.
Trotzdem tut er’s.
Muss man ja, als braver Bürger.
Heute ist Sonntag und ein wichtiger Tag, sagen sie alle.
Wir sollten’s ihm danken.
Vor dem alten Gasthof steht niemand, den er kennt.
Oder anders – es steht niemand vor dem alten Gasthof.
Beides trifft den Nagel auf den Kopf.
Er hat ja das Frühstück ausgelassen, deshalb ist er der Erste.
Müde wickelt er diesen faden Gedanken auf und betritt die Gruft.
Drinnen ist es kalt.
Rechts sieht er die Urne und vorne vier fahle Gesichter.
Ihre Blicke sind eisig und matt.
Mehr noch als seiner.
Das schreckt ihn.
Er muss zum Rudel hin, auch wenn er nicht will.
Man tauscht Höflichkeiten aus.
Dabei fühlt man sich immer, als entreiße man dem anderen etwas.
Aber das steht heute nicht zur Wahl.
Man erledigt was erledigt werden muss und schickt ihn dann zur eigentlichen Sache.
Weiter hinten sucht er sich eine der Kabinen aus, die hat er vorhin nicht gesehen.
Er tritt ein.
Ein Vorhang bietet Geborgenheit.
Das Prozedere ist geübt und einstudiert.
Auf einem Tisch liegen Papier und Stift.
Aus dem Mantel fischt er eine Lesebrille.
Sie beißt gleich an und er setzt sie sich auf die Nase.
Die Brille bietet Schutz vor überlesenen Details.
Er kennt das Spiel und das Spiel kennt ihn.
Die Bittsteller hat man ihm schon vorgestellt, im Fernsehen und in der Zeitung.
Auf dem Papier findet er sich rasch zurecht.
Niemand fehlt.
Außer einer guten Option.
Sich für das geringste Übel zu entscheiden ist der neueste Trend aus den Staaten.
Und er greift um sich wie ein Lauffeuer.
Es glimmt zu allen Seiten.
Der Rauch schwärzt seine, meine Lunge.
Man distanziert sich, lässt sich treiben.
Verschließt die Augen vor der Düsternis unserer Vergangenheit.
Er wünscht sich und alles hinaus aus dieser Gruft.
Wir tragen die Demokratie heute nicht zu Grabe.
Sagt er sich.
Und macht sein Kreuz.
Er zieht die Kante glatt mit dem Nagel.
Beim Wurf in die Urne fühlt man sich fern der Schule nahe.
Wie bei der Abgabe eines geschriebenen Diktats.
Er weiß noch nicht, ob seine Antwort nicht ein Fehler ist.
Zuerst lässt er den Lehrer kontrollieren.
Zumindest teilgenommen hat er.
Versäumtes morgen nachzuholen ist Privileg des schulischen Umfelds.
Hier geht das nicht.
Es bereitet ihm Sorgen.
Tief in ihm schlummert eine Befürchtung, die nun langsam erwacht.
Er verlässt den alten Gasthof.
Keine zischende Schlange, kein Drängeln.
Vorn steht niemand den er kennt.
Aber es ist noch früh.
Nach dem Wählen geht er zur Arbeit.
Es gilt Rechnungen zu bezahlen.
Der restliche Tag vergeht so träge wie ein schlechter Film.
Unser Held kehrt spät zurück ins Eigenheim.
Er ist müde.
Er ist geschafft.
Er hat Angst.
Vielleicht ändert sich etwas.
Denkt er sich.
Und schläft ein.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX