Spiegel des Lebens
Das Mädchen, dem ich in die Augen blicke, wirkt müde. Ihre Haare sind zu einem strengen Zopf gebunden und wirken darin fettig. Unter ihren Augen zeichnen sich dunkle Ringe. Schlaf wäre eine gute Idee. Eine Dusche würde wahrscheinlich auch nicht schaden.
Über den Arm des Mädchens zogen sich Narben, wie wulstige Würmer durch die Haut. Ihre Mundwinkel hängen nach unten. Früher ist sie bestimmt schön gewesen. Sie wirkt müde. Es scheint, als hätte sie ihr ganzer Lebensmut verlassen.
Ein wenig Schminke würde toll aussehen. Die Augenringe verdecken und ihre grünen Augen mit Eyeliner zur Geltung bringen. Wozu sollte sie sich das antun? Ihre Erschöpfung lässt mich nachdenken, wie viele Tränen dieses Mädchen wohl bereits geweint hat.
Ihre rechte Hand fährt über die Narben. Das Gefühl muss dem eines Waschbretts, welches aus Haut hergestellt wurde, gleichen. Diese Würmer, sie sind so geradlinig und regelmäßig.
Niemand konnte ein solches Mädchen lieben. Ob irgendjemand sie jemals in den Arm genommen hat? Sie sieht aus, als hätte sie eine Umarmung gerade nötig.
Ich denke an das Bild mit ihrem Freund. Er hat Schluss gemacht. Die Lebensfreude einer Jugendlichen steckt nicht in ihr. Ansehen und Aufmerksamkeit der anderen braucht sie nicht. Dadurch fühlt sie sich bloß schlechter.
Ich kann nicht sagen, ob ich dem Blick noch lange standhalte. Erste Tränen befinden sich in ihren Augen. Sie blinzelt sie weg.
Ihr Körper ist von Enttäuschungen geprägt. Wann hat sie das letzte Mal gelacht. Weiß sie, wie es ist, wenn einem vor Lachen die Tränen kommen? Vielleicht von früher. Ich bin mir nicht sicher, sicher sein kann man sich nie.
Die erste Träne verlässt ihr Auge und läuft über die Wange. Ich stehe auf. Der Spiegel muss schnellstmöglich entsorgt werden. Ich schaffe es nicht, mich einen weiteren Tag darin betrachten zu müssen.
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