Spiegelbild
Gekrümmt sitzt sie am Bett und starrt in den gegenüberliegenden Spiegel. Ihr blondes Haar hängt ihr wild vor das Gesicht und ihre Augen schauen regungslos ihr Spiegelbild an. Sie empfindet nichts, absolut nichts. Als starre sie in das Gesicht einer Fremden. Am Boden verstreut liegen Kleidung, ein Polster und eine zerknüllte Decke. Die Nachttischlampe liegt zerbrochen auf dem kleinen, weißen Teppich vor dem Bett. Die Scherben der Lampe spiegeln ihr Leben wider. Ihr Leben ist in Scherben zerbrochen. Und nicht erst seit heute. Wann hatte es angefangen sich aufzulösen, zu verschwimmen wie eine Welle im See? Vor Jahren, als ihr Mann sich änderte? Als er zu Trinken anfing? Als er Ärger in seiner Firma bekam? Und warum hatte sie es sich so lange gefallen lassen? Sie kannte die Antwort nicht.
Wegen der Kinder war sie nicht geblieben. Sie hatte nie welche bekommen. Langsam hob sie den Kopf und sah direkt in die Augen ihres Spiegelbildes. Sie war geblieben, geblieben aus Angst vor dem Alleinsein, Angst vor dem Unbekannten, Angst vor der finanziellen Not. Das waren die wahren Gründe und tief in ihr wusste sie es. Sie war ein Feigling. Deshalb hatte sie all die Jahre seine Wutausbrüche, seine Respektlosigkeit und seine Schläge über sich ergehen lassen. Sie starrte weiter in ihre Augen, keine Träne war zu sehen. Sie sah nur ihre eigene Unzulänglichkeit, ihren eigenen Verrat an sich selbst. Ihr wurde klar, wie viel ihre Feigheit sie gekostet hatte. In all den Jahren war ihr Selbstbewusstsein völlig zerschmettert worden. Aus der einst erfolgreichen, hübschen Frau war ein zurückgezogenes Häufchen Elend geworden.
Es war vorbei, so schwor sie sich, noch heute würde sie diesen Mann verlassen. Sie konnte ihre Tasche und einen Teil des gesparten Geldes packen und weggehen. In ein Hotel, zu Freunden oder zu ihren Eltern. Alles wäre besser als hier zu bleiben. Dann würde er wieder versuchen, sie zurückzugewinnen, ihr Versprechungen machen und wenn sie nachgab, würde alles so weitergehen wie bisher. Und je länger sie ihr Spiegelbild ansah, desto bewusster wurde ihr ihre Feigheit. Alles war einmal zu Ende, nichts ging ewig. Und heute ist ihr das endlich klar geworden. Sie musste heute gehen, das Haus und ihn verlassen und neu beginnen. Da draußen, außerhalb dieser Mauern, wartete das Leben auf sie. Das Gefängnis verlassen und ihrem Leben einen neuen Sinn geben. Sie stand auf und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Sie ging zum Fenster und betrachtete die Blumen im Garten. Sie konnte all dies wieder haben, an einen anderen Ort, ohne Angst und ohne Streit. Die Angst stieg in ihr auf, aber etwas in ihr war stärker, die Lust auf Leben. Die Veränderung in ihr war greifbar geworden.
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