Spiel mir etwas vor und wir verschwinden von hier
Und ich spüre, es kommt schon wieder. Drei Mal tief ausatmen, drei Mal blinzeln, drei Mal mehr mir selbst zuflüstern, dass alles gut ist. Ich wiederhole die Worte in meinem Kopf, die ich schon so oft gehört und nie tatsächlich zu begreifen vermocht habe. Oft waren sie mit diesem missbilligenden Augenrollen verbunden, der Abschätzigkeit eines fremden Blickes, die bloß das Unverständnis meiner selbst und meiner Welt zu kaschieren suchte. Zwei Worte, so schnell gezischt, so leichtfertig mir an den Kopf geworfen und doch so schwer zu verdauen. Denn es ist nicht leicht anders zu sein, nicht leicht und doch gleichzeitig auch nicht schwer. Wären wir alle die, die wir wirklich sind, spielte keiner von uns diese lächerliche Scharade mit, dann wären wir alle anders. Und die zwei Worte, die Tag für Tag an mir nagen wie das Todesurteil einer ganzen Generation, würden erlöschen.
Es war Winter geworden. Die beste Zeit im Jahr. Ruhe und Stille und Einkehr und Schutz vor ihnen, den Anklägern. So sitze ich vor dem Fenster, zeichne mit meinem Blick die Fußstapfen im Schnee nach, stelle mir vor, wie die Schneeflocken, die ich in der eisigen Kälte und dem Nebel nur antizipieren kann, meine Stirn küssen. Die hölzerne Fensterbank knarrt, als ich mich vorsichtig von ihr erhebe. Charles Dickens lächelt mir von meinem Bücherregal entgegen. Die warme, dunstige Luft tanzt zwischen den Holzmöbeln meines Zimmers, zwischen Parkett und Decke, zwischen mir und der Stille. Der Sturm tobt vor meinem Fenster. Ich spüre deine Hand an meiner Wange. Ich schließe die Augen und weiß, dass du da bist. „Spiel mir etwas vor und wir verschwinden von hier“. Und ich höre dich Klavier spielen. Du spielst und spielst. Ein letztes Abschiedslied an unsere gezählten Jugendjahre in dieser Welt, die uns nicht versteht, dich und mich. Du und ich wir sind wie Zeitreisende, wir gehören nicht hierher und das wissen sie auch, die Richter und die Henker. Denn wir haben uns entschieden dazu, diejenigen zu sein, die wir sind. Ohne Maske, ohne Schutzmantel der Assimilation. Sie sagen immer, wir haben alle Meinungsfreiheit. Aber was, wenn ich sie wechsle, diese Meinung, jeden Tag, je nachdem welche ich vertreten muss, um ihren Erwartungen zu entsprechen? Jeden Tag, wie frisches Gewand, wie eine andere Perücke, ein anderer Lippenstift, rot, blau, grün, schwarz, rosa vielleicht. Ich sage dann immer, mein Kleiderschrank ist nicht groß genug. Und du spielst weiter. Ich fühle mich sicher mit der Melodie deiner Gedanken, die du mir zusendest, ganz unbewusst. Es riecht nach einem Neuanfang, nach dem vielversprechenden Duft, beim Aufblättern eines neuen Kapitels. Und doch weiß ich, es wird sich nichts ändern. Der letzte Klavierton verhallt in der warmen Finsternis.
Und ich höre sie, die Stimmen, sie flüstern, sie murmeln, sie klagen an: „Geh bitte!“ und ich spüre, wie ich langsam aber doch an ihnen zerbreche.
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