Spring nicht, wenn du nicht weißt, wie tief das Wasser ist
Grau. Heute ist ein grauer Tag. Grau wie die Tische des Hörsaales. Grau wie die verregneten Straßen und der Himmel. Grau wie die Wimperntusche, die Streifen auf meine Wangen gemalt hat. „Begleite mich!“ hat er gesagt. Diese Worte sind der Grund für den Zebra-Look meiner Wangen. Ich bin kein Hals-über-Kopf Mensch.
Konzentration, nicht an gestern denken. Nicht an die Nacht denken, die ich mehr leer als schlafend, mehr leer als wach verbracht habe. Leer. Leere ist grau. Eine Grauzone, nicht schwarz, aber auch nicht gut. „Ich kann nicht alles aufgeben!“ Alles. Was alles? Mein Leben, meine Familie, meine Heimat, mein Studium. Das Studium, das ich vermutlich nicht abschließen werde, wenn ich mich weiter so wenig konzentriere. Buch, Seiten, Stift. Die anderen machen Notizen- Mitochondrien, Doppelhelix, Adenin.
Die Tür geht auf, hoffnungsvoll springt mein Herz, als ich mich vorbeuge. Nur ein Student. Nicht er. Wieso sollte er auch hier sein? Hier auftauchen im Hörsaal 5 der Uni Wien, wenn sein Zug doch nach Berlin fährt? Der Professor hat schon weiter geredet. Wo ist mein Stift? Da rollt er über die Tischkante. „Geh nicht!“ Der Stift, er. . . Ich ducke mich, jetzt langsam den Arm ausstrecken - hab ihn! Wieso ist mir das gestern nicht gelungen? Vielleicht weil er ein Mensch ist und kein Stift. Wieso können Menschen keine Kugelschreiber sein? Oder lieber nicht, die verliert man ja ständig; vielleicht ein Boomerang?
Ich hätte mitgehen sollen. Scheiß auf Uni, auf die Meinung anderer. „Ich muss nach Berlin ziehen“, hat er gesagt. „Jede 3. Fernbeziehung geht in die Brüche“, sagen die Statistiken. „Komm mit oder bleib.“ „Keine Fernbeziehung“, haben wir beide gemeint. „Ich bin kein Hals-über-Kopf-Mensch“, hab ich gesagt. Boden kann hart sein, vor allem wenn man so tief fällt, aus allen Wolken fällt. Mitschreiben, ich will doch die kommende Prüfung bestehen. Chromosome, Nucleinsäure, Biosynthese. „Studium ist wichtiger; sei emanzipiert“, wird gepredigt. Genotyp, Allele, Crossing-Over. „Spring nicht, wenn du nicht weißt, wie tief das Wasser ist.“
Aber wenn ich nicht springe, werde ich nie herausfinden, wie tief es ist. Noch 20 Minuten. In 20 Minuten geht sein Zug, trennt uns für immer. Collegeblock in die Tasche stopfen, aufstehen, hinauseilen, durch die Lacken und in die U-Bahn. Der arme Kopf hat nicht einmal genug Zeit gehabt, es sich anders zu überlegen. Heute entscheidet mein Herz und mein Bauch und vielleicht sogar mein Hals, wenn er schnell genug ist, um über meinem Kopf zu sein. Rennen, Koffern ausweichen. Was wenn er mich nicht mehr mitnehmen will? „Nebensächlich“, sagt der Hals, das Herz nachahmend.
„Du bist gekommen!“ Ich springe in seine Arme. „Ich muss kein Hals-über-Kopf-Mensch sein, solange mein Herz das Sagen hat.“ Ein Grinsen, leuchtende, sturmgraue Augen. „Bist du dir sicher?“ Und wenn ich mein neues Leben mit nur einem Collegeblock und einem weglaufenden Kugelschreiber beginnen muss, das ist es mir wert.
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