Spring
Mit einem traurigen Lächeln sieht sie in das Gesicht ihrer Tochter, wischt ihre Tränen weg, um ihr gleich anschließend einen Kuss auf die Stirn zu geben. Ein Abschied, der nicht zu offensichtlich und schmerzhaft für das kleine Mädchen sein sollte. Und damit verschwand sie auch, ohne Erklärung, ohne jegliche Chance auf ein Wiedersehen. Ihre Zeit war gekommen, dies musste sie mit Bedauern feststellen. Sie ging die Tür hinaus und stieg ins Auto, um gleich anschließend ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Kurz nachdem sie sich einigermaßen beruhigen konnte, steckte sie den Schlüssel in das Zündschloss. Dabei fiel ihr kleiner Anhänger sofort auf. Es war zwar bloß eine kleine Kugel mit einem lächelnden Gesicht drauf, aber dadurch, dass es ihre Tochter für sie gemacht hatte, war dieser kleine Anhänger etwas Besonderes. Sie konnte sich noch genau erinnern, als ihre Tochter am Muttertag mit einem stolzen Lächeln zu ihr kam. Ganz stolz gab sie ihr den Anhänger und wartete gespannt auf ihre Reaktion. Sie hatte sich gefreut über das Geschenk ihrer Tochter und sie gleich mit Komplimenten überhäuft wie schön es doch sei. Und dies stimmte auch, weil es von ihr kam und mit so viel Liebe gemacht worden war. Da waren krumme Kleinigkeiten vollkommen egal. Sie schüttelte den Kopf. Sie musste jetzt bei der Sache bleiben, einen klaren Kopf bewahren. Sie startete ihren kleinen Oldtimer, um damit gleich anschließend wegzufahren. Ein besseres Auto hatte sie sich nie leisten können. Sie gab das Geld lieber für ihre Tochter aus, und ihr Gehalt war immer viel zu wenig gewesen, um sich je ein neues Auto leisten zu können. Sie fuhr die Straße entlang, so wie schon tausende Male zuvor, nur mit dem Wissen, dass es heute das letzte Mal sein würde. Die Stimmung im Auto war bedrückt und die Musik, die aus den Lautsprechern des alten Autos kam, machte dies nicht besser. Das Radio gab nur traurige Lieder von sich, und bevor es noch schlimmer werden hätte können, drehte sie die Musik ganz aus. Nach zehn Minuten Fahrt war sie an ihrem Ziel angekommen, einer Klippe. Als sie selbst noch ein Teenager war, war das immer ihr Lieblingsort. Dort hatte sie immer gesessen und nachgedacht, wie sie am schnellsten von allem fliehen könnte. Sie hatte immer so lange von der Klippe aus hinuntergeschaut mit nur einem Gedanken. Aber sie hatte immer viel zu viel Angst im Leben. Doch heute war es anders. Sie hatte keine Angst mehr. Das, was sie jetzt Tat, war das einzig Richtige. Zumindest für sie. Und bevor sie hätte kneifen können, sprang sie. Dieses Gefühl, in diesen einem Moment, frei zu sein, war atemberaubend. Die Zeit am Weg zum Abgrund schien wie eine Ewigkeit und dennoch, bevor sie mit dem Gesicht den Abgrund erblicken sollte, sollte der letzte Gedanke ihrer Tochter gelten. Alle Gedanken waren bei ihr und damit sie sich besser darauf konzentrieren konnte, schloss sie dabei ihre Augen. Und noch bevor sie hätte jeglichen Schmerz spüren können, fiel sie in einen endlosen Schlaf.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX