Spuren der Zeitvon Melanie Kremnitzer
Seine Atemzüge beschlugen das Fensterglas, der hoffnungslose Versuch zurück in die Freiheit zu finden. Er war mit der Zeit gegen die Geräusche in seinen Ohren taub geworden, dennoch ließen sie ihn nachts nicht schlafen. Er hatte keine Anteilnahme an seinen Atemzügen. Der Tag ermüdete daran ihn wachzuhalten. Er konnte die Berge seiner Kindheit nur noch von seinem Fenster aus sehen. Es war der Boden seiner Heimat, der ihn nie gehen ließ.
Das Moos zu seinen Füßen sog das Geräusch seiner Schritte in sich auf. Der Aufstieg begann als Spaziergang und endete an der Grenze der körperlichen Ausdauer. Er hatte gelernt, sich seine Kräfte einzuteilen. Er bückte sich unter dem herabhängenden Astwerk der Fichten. Es tropfte nass auf ihn herab: Der in den Nadeln gespeicherte Regen der letzten Sommertage. Seine Schritte tasteten sich über den Weg, der im Nebel verschwand. Es reichte aus, den Boden dort zu sehen, wo er ihn berührte. Für ihn war jeder Schritt eine Ankunft auf Heimatboden.
Die Erde zog das Pflanzenleben in sich zurück. Zu dieser Zeit des Jahres begann der Sommer sein Spielfeld zu räumen. Er blieb stehen, um zu warten bis seine Augen durch den Nebel fanden. Die letzte Hütte stand verlassen zwischen den Bäumen. Sie war das einzige Menschgeschaffene unter der Ewigkeit: Die Natur begann zu beseitigen, was ihrer Ordnung widersprach.
Der Wind wehte über dem Boden, um den Rest des Sommers aus den Bergen zu fegen. Die Nadelbäume reagierten nicht auf den Wechsel der Jahreszeit: der Erde entwachsen, um dem Himmel entgegen zu sterben. Er hatte seinen Namen in den Stamm einer Fichte geritzt, um sich darin zu verewigen. Für den Baum ist es eine Schwachstelle, die Handschrift des Menschen zu tragen. Über die Jahre begann die Rinde sich darüber zu erneuern. Es war die Zeit, die ihre Hand darüberlegte. Er führte seinen Zeigefinger an den Stamm, um nachzuziehen, was darauf nicht mehr sichtbar war. Es muss lange her gewesen sein, dachte er. Der Baum war ohne ihn in den Himmel gewachsen.
Die Vögel in den Ästen sangen nicht. Sie waren an ihren Aussichtsposten unter dem Himmel eingeschlafen. Er sah die Welt mit den Augen seiner Kindheit: Sie waren immer noch wach. Die Fußspuren von damals zerrten den alten Körper bergauf.
Die Luft wurde dünner, je höher er stieg. In ihr verloren sich seine Atemzüge. Auf dieser Höhe war jedes Geräusch Teil der großen Stille. Hinter ihm füllte der Nebel die Tiefe auf. Zu seinen Füßen zuckte der Schwanz eines Salamanders, der vor seinem Tritt floh. Er achtete nicht darauf. Hier oben lebte jeder seine Einsamkeit für sich. Er hörte auf, sich mit seinem Schöpfer über den Lauf der Dinge zu unterhalten. Über die Jahre hatten sie einander vergessen. Die einzige Gewalt, an die er glaubte, war die Zeit.
Das Licht der späten Sonne fiel schwer auf ihn herab. Sein Kopf pulsierte. Er konnte nur noch seinen Herzschlag hören. Er hatte seinen Körper bis vor den letzten Abschnitt des Weges getragen. An dieser Stelle setzten sich die Spuren von damals über dem Boden fort. Er legte seine Hände an den Felsen. Sie fanden immer noch darauf Halt. Seine Augen stiegen ihm voraus, immerzu in den Himmel gerichtet. Es war der letzte Tag im Sommer. Die Wolken schlossen den Himmel unter ihm. Er konnte die Gänse, die in den Süden zogen, nicht mehr von den Engeln unterscheiden.
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