Stand Null
Seine glasig blauen Augen starrten sie schon seit mehreren Minuten an. Ihre Hände zitterten noch immer, als sie die Küchenschublade zufallen ließ.
„Wir müssen uns fernhalten von anderen Menschen und immer mit Angreifern rechnen.“ Sie schluckte den großen Kloß runter, der sich in ihrem Hals gebildet hatte. Die Idee, Hals über Kopf zu ihren Eltern zu flüchten, gefiel ihr immer noch nicht.
„Wir schaffen das.“
„Ich habe Angst vor den grausamen Menschen da draußen und der Weg ist weit.“ Er antwortete nicht.
Mit langsamen Schritten näherten sie sich der Haustür. Ihre rechte Hand umschlang den Türgriff, die Linke das große Messer. Leon nahm ihre Hand, drückte sie fest und gab ihr einen Kuss auf ihre glühend heiße Stirn.
„Wir schaffen das. Ich habe dich lange genug auf diesen Tag vorbereitet. Sollte mir etwas zustoßen, würdest du es zur Not auch alleine schaffen!“ Sie nickte. Tränen rannen über ihre Wangen. Sie ließ seine Hand los und legte das Handy beiseite, was sie aus Gewohnheit mit sich nahm. Der Bildschirm hatte am 27. 09. 2244 das letzte Mal geleuchtet. Dann waren die letzten Stromreserven aufgebraucht. Sie wollte nicht schon wieder daran denken, wie alles Geschehen war. An die Menschenmassen, die schockiert über den Elektromagnetischen Impuls gewesen waren, daran wie die elektrische Infrastruktur mit einem Mal auf der Erde zusammengebrochen und die darauffolgenden Kriege ausgebrochen waren.
Die Straßen waren wie leer gefegt. Sie hielt das Messer verkrampft in der Hand und sah sich immer wieder zu allen Seiten um.
Sie zitterte, als sie nach seiner eiskalten Hand griff. Von weitem sah sie den verlassenen Laden ihrer Eltern.
„Manchmal frage ich mich, wie alles so weit kommen konnte.“ Er seufzte. Eine ganze Zeit lang schwieg er.
„Ich habe gelesen, dass die USA, Russland, Frankreich und die Türkei sich zusammengeschlossen haben. Das ist länger her, bestimmt 150 Jahre. Das war der Ursprung dieser Katastrophe. Durch den Emp ist alles zusammengebrochen, was vorher einmal für Ordnung gesorgt hat. Die Menschen haben Angst bekommen, jeder wollte Ressourcen sichern. Irgendwann war der letzte Strom aufgebraucht, nichts funktionierte mehr, Autos, Fabriken und öffentliche Verkehrsmittel lahmgelegt. Und jetzt sind wir wieder dort, wo wir am Anfang der menschlichen Geschichte waren. Bei Null.“ Die Geschichte erzählte er ihr immer wieder.
Er sperrte das Tor auf, was sich nur wenige Meter öffnen ließ. Dann gab er ihr eines der Fahrräder, mit denen sie schnellstmöglich zu ihren Eltern kommen wollten, die eine vorläufig sichere Bleibe für sie bereit hielten. Sicher vor Krieg und Zerstörung.
„Ich werde mich noch kurz nach Proviant umsehen. Halt das Messer vor deine Brust und denk immer an meine Worte.“ Es dauerte Minuten bis sie einsehen musste, dass er nicht zurückkommen würde. Der Gedanke, plötzlich auf sich gestellt zu sein, nahm ihr den Atem. Sie betrachtete das Messer in ihrer Hand, die scharfe, silberne Klinge. Dann setzte sie sich auf das Fahrrad.
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