Sterben
Sein Zimmer hat gelbe Türen. Es ist ein Einzelzimmer. Als die gelben Türen sich öffnen, dreht
er den Kopf kurz zur Seite und erkennt die Krankenschwester, die den Raum leise betritt und
ihn anlächelt. „Ihre Tochter wird in wenigen Minuten bei Ihnen sein“, sagt sie und
verabreicht ihm ein Medikament. Er nickt. 87 Jahre ist er mittlerweile alt und hat ein
erfülltes Leben hinter sich. Seine Frau ist bereits vor zwei Jahren verstorben, seither hat sich
auch sein gesundheitlicher Zustand deutlich verschlechtert, nun bleibt ihm nur noch seine
Tochter und ihre Kinder. Seine Enkelkinder liebt er wie nichts anderes auf der Welt. Er spürt,
dass es heute passieren wird, doch erzählt er der Krankenschwester davon nichts. Er bittet
sie bloß mit einem Handzeichen, sein Bett ein bisschen höher zu stellen. Er freut sich sehr
auf den Besuch seiner Familie.
Seine Tochter hat ihren kleinen Sohn mitgebracht.
Dieser ist acht Jahre alt und drückt die Hand seines Großvaters an seine. Er lächelt. „Hier, ich
habe dir Blumen mitgebracht!“ Dankend lächelt er seine Tochter an, die den bunten
Blumenstrauß in eine Vase auf dem Nachtkästchen neben dem Bett stellt. „Du wirst doch
nicht sterben, Opa?“, fragt der Kleine. Und wieder lächelt er und streicht dem Jungen
behutsam durch die Haare. „Keine Angst, Schatz, Opa geht es gut.“, beruhigt ihn seine
Mutter. Sie wirft einen kurzen Blick auf ihr Handy. Er sieht seine Tochter fragend an. „Sie
kommen gleich.“ Und wieder nickt er lächelnd.
Leise klopft es an der gelben Tür, bevor ein Mann mit einem kleinen Mädchen im Arm das
Krankenzimmer betritt. Das Mädchen schläft. Der Mann umarmt seine Frau und seinen Sohn
und legt das kleine Mädchen in die Arme seiner Mutter. Seit 11 Jahren sind die beiden nun
schon verheiratet und trotzdem ist heute der erste Tag, an dem der Mann bei seinem
Schwiegervater willkommen ist. Besonders mit seiner verstorbenen Schwiegermutter hat er
sich furchtbar zerstritten. Sie war nie damit einverstanden, dass ihre Tochter einen Mann
ohne irgendein Vermögen heiratete, und war infolge dessen auch mit allem unzufrieden, was
der Mann tat. Vom Namen des Sohnes über die Erziehung des Kindes bis hin zum Verhalten,
das er an den Tag legte, wenn er bei seinen Schwiegereltern zu Besuch war. Bis zu ihrem Tod
waren sie zerstritten. Doch bei ihm sollte es anders sein. Er ist glücklich, als er seinem
Schwiegersohn nach langer Zeit mal wieder in die Augen sieht, und auch der Mann seiner
Tochter wirkt froh, ihn noch einmal zu sehen. Da erwacht das kleine Mädchen in den Armen
seiner Mutter. Es sieht seinen Großvater verwirrt an. Noch einmal lächelt er. Dann geht er.
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