Stimme aus der Entfernungvon Lucia Dorner
Weit weg, weit weg. Immer weiter, bis ins Unendliche. Kannst du mich hören, kannst du mich sehen, mein liebes Ich, kannst du mich noch spüren?
Ich sehe dich, ich sehe dich, aber spüre dich nicht, ich sehe dich, aber nichts um dich herum, ich sehe dich - fast - nicht.
Hallo. Hallo, du, mein Selbst, das ich so oft verloren habe. Ich würde dich wirklich gerne wieder mal treffen. Wieder mal, wenn ich irgendwann einmal nichts tue. Ich würde dich wirklich gerne treffen und dich fragen, ob es das alles wert ist. Das würde ich sehr gerne wissen. Ich habe das Ziel ein wenig aus den Augen verloren, früher ist es mir immerzu ins Auge gestochen, aber heute sehe ich alles ganz verschwommen.
Du, mein Ziel, dich sehe ich nicht mehr so klar. Sag mir, bist du noch da? Oder wurdest du erdrückt, von Ansprüchen, denen anderer und meinen eigenen? Bist du unerreichbar? Sag mir, bist du jetzt näher, oder eher noch weiter weg?
Ich habe Angst vor Entfernung. Egal, ob sie groß oder klein ist, wenn sie groß ist, sehe ich nicht weit genug, bin ein bisschen kurzsichtig. Doch wenn sie klein ist, dann sehe ich nichts anderes mehr und verliere mich ganz in dir, bis die Entfernung sich langsam wieder vergrößert.
Ich sehe dich in einem Raum voller Menschen und auf einmal sehe ich nur dich, der Raum wird menschenleer. Wie sehr wir all unser Sehen auf einen Menschen beschränken können. Sehen wir nichts mehr? Oder fällt uns die ganze Welt erst wieder auf, wenn die Entfernung zu dem Menschen wieder größer wird? Weil die Welt wieder lauter wird, wenn du mich nicht mehr sehen willst. Darf ich dich anrufen und anschreien und dich fragen, warum die Entfernung zwischen uns so groß ist? Wir waren früher eine Sicherheit, dann eine Möglichkeit, doch langsam fühlen wir uns an wie eine flüchtige Vorstellung. Ich mag die Vorstellung von dir. Aber sie ist so weit entfernt von dir und deiner Vorstellung von mir und mir.
Meine Sicht verschiebt sich und ich meine, die Zeitverschiebung zu schmecken. Kleine Änderungen in großen Konstrukten. Sinnlosigkeiten in erdachten Konzepten. Willst du leben bis ans Ende aller Zeiten? Welche Zeiten und wie können sie kein Ende haben? Die Zeiten, in denen wir leben, sind nicht gut. Aber sind sie endlich? Und wann werden sie endlich besser? Hinter dem Begriff der Unendlichkeit gibt es ein schönes Versteck. Weil unmögliche Versprechungen nie erfüllt werden können und trotzdem irgendwie mehr bedeuten. Weil ich dich von Unendlichkeit reden hören will, und wenn du mich ansiehst, will ich dir etwas darüber zuflüstern.
Und wofür genau? Vielleicht für die Verschiebung von Entfernung. Dafür, dass Menschen manchmal so weit weg von dir sind, dass du sie fast verlierst, aber dann auch wieder so nah, dass du nichts anderes siehst. Dafür, dir selbst so nah zu sein, dass du dich wirklich spürst. Vielleicht für Zeiten, in denen alle Entfernungen ganz falsch sind. Und für Zeiten, in denen sie genau richtig sind.
Ich weiß, ich lebe für kein Ende. Ich lebe für Anfänge.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX