Stumm
Wer bin ich? Bin ich diejenige, die andere in mir sehen? Bin ich diejenige, die ich früher einmal war? Bin ich diejenige, die sich hinter all den Mauern versteckt, die ich um mich herum aufgebaut habe?
Die Wahrheit? Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nicht mehr warum ich hier bin, was der Sinn meiner Existenz ist. Aber jede Schule braucht ein Opfer, nicht wahr? Vielleicht ist das meine Bestimmung.
»Pass doch auf wo du hintrittst! «
Mit einem lauten Knall traf mein Körper auf den Fußboden der Schule. Meine Sachen verteilten sich im Korridor.
Lachend drehten sich die Schüler zu mir um.
»Was macht denn die Stumme am Boden? Endlich begriffen wo du hingehörst? «
Mit aller Selbstbeherrschung, die ich aufbringen konnte drängte ich die Tränen zurück und rappelte mich auf.
Die Welt vor mir verschwamm zu verschiedenfarbigen Punkten, während der Schmerz des Aufpralles in meinem Körper widerhallte.
»Willst du dich nicht verteidigen? Oder warte einmal. Das habe ich ja ganz vergessen. Du kannst nicht reden, oder? Aber was mich schon immer interessiert hat: Bist du einfach nur zu feig dafür, oder kannst du es wirklich nicht? Also ich persönlich tippe ja auf das erste, stummer Freak. «
So ging es den ganzen Tag. Seit zehn Jahren. Immer das Gleiche. Man sollte meinen, dass es ihnen irgendwann zu langweilig wird. Anscheinend aber nicht. Sie werden nie aufhören.
24/7 machen sie mich nieder. Warum? Ich weiß es nicht. Vielleicht weil ich nicht reden kann. Vielleicht weil ich das Mädchen bin, das nicht normal ist. Nicht wie der Durchschnitt. Aber sie brauchen ja gar keinen Grund dazu. Sie brauchen nur Leute die hinter ihnen stehen. Es lustig finden was sie machen, sie dabei unterstützen. Dafür müssen sie nicht Einzelheiten über mein Leben, über meine Vergangenheit wissen. Sie müssen nicht den Grund kennen, warum ich aufgehört habe zu reden. Es interessiert niemanden. Das einzige was sie wollen, ist ein Opfer. Damit sie stärker erscheinen und nicht selbst irgendwann zum Opfer werden.
Gebückt war meine Haltung, Blick auf den Boden gesenkt. Meine Taktik, zu verhindern aus der Menge herauszustechen.
Doch ich werde es wohl nie schaffen unsichtbar zu werden, egal wie sehr ich es mir wünsche.
So schnell es mir möglich war packte ich meine Sachen zusammen. Die geflüsterten Beleidigungen ignorierend, die mir an den Kopf geworfen wurden.
Sie werden beliebter, wenn sie mich beleidigen. Wegen dieser Tatsache verschwenden sie nicht einmal einen zweiten Gedanken daran, was diese Wörter wirklich anrichten können. Worte schneiden manchmal tiefere Wunden als Taten. Nicht immer, aber oft. Und man gewöhnt sich nie an Beleidigungen. Es ist unmöglich sich daran zu gewöhnen Freak, Hure, Stumme, Versagerin, … genannt zu werden. Jedes einzelne unbedachte Wort schneidet eine weitere Wunde, hinterlässt eine Narbe. Eine unter vielen. Bald werden es zu viele Wunden sein.
Als ich mich gerade bückte um mein Buch aufzuheben, trat jemand mit voller Absicht auf meine Hand.
Es reicht. Ich kann das nicht mehr. Genug!
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