Sturm
Einhundertdreiundsechzig Wassertropfen pro Kubikmeter klatschen im Abstand von sechzig Sekunden an die von innen vergitterte Scheibe. Das macht fast doppelt so viele Tropfen wie gestern. Gestern war der neunundzwanzigste, ein Dienstag. Frau Gruber verspätet sich um eine Minute und siebenunddreißig Sekunden und L. schläft noch. Schon seltsam, dass wir ausgerechnet denselben Namen haben, doch solange Frau Gruber uns unterscheiden kann und aus Unordentlichkeit keine Verwechslung anstellt, ist mir das auch recht.
Jeden Tag esse ich um Punkt acht exakt hundertfünfzig Gramm lauwarmen Haferbrei und trinke dazu ein halbes Glas kalte Milch. Ich spiele am Lautstärkeregler des Radios auf meinem Nachttisch und drehe die Frequenz um zweiundsechzig Grad nach Norden, bis das Rauschen vom großdeutschen Rundfunkt übertönt wird. “Es zittern die morschen Knochen der Welt vor dem Krieg. . . ”. Gestern habe ich diese Worte dreimal gehört, vorgestern viermal. Die Melodie kratzt hin und wieder, fast schon synchron zu dem Dreivierteltakt, in dem das Lied geschrieben ist. L. erwacht von dem Lärm und umklammert fest den dritten oberen Holzstab von seinem neunzig mal achtzig Meter großen Gitterbett. L. ist insgesamt nur fünfundsiebzig Zentimeter groß, weshalb er in ein Bett passt, welches mir um achtundsechzig Zentimeter zu klein wäre. Doch dieser Gedanke ist unüberlegt, schließlich habe ich zwei Beine zum Gehen.
Einhundertachtundsiebzig Wassertropfen pro Kubikmeter und ein Rauschen legen sich über die Radiomusik: “Warum jetzt noch zweifeln, hört auf mit dem Hadern, noch fließt uns deutsches Blut in den Adern. . . ”. Dreiundvierzig Wassertropfen rinnen an dem Glas entlang. Ich bin ein Mensch. Die Uhr zeigt acht Stunden, fünfzehn Minuten und achtzehn Sekunden. L. ist ein Mensch. Wo bleibt mein Haferbrei? Ich vergrabe meinen Kopf in der dünnen Matratze, die auf dem eisernen Lattenrost liegt. Nur ich, mein Bett, das Gitterbett, die Uhr, das Radio, der Nachttopf, die Regentropfen und L.
Die Türe öffnet sich und Herr Dannenberg betritt das Zimmer. Die Schüssel mit hundertfünfzig Gramm lauwarmem Haferbrei in der einen Hand, das halbvolle Glas kalter Milch in der anderen. Er stellt, ohne etwas zu sagen, die beiden Gefäße auf meinen Nachttisch, geht zum Gitterbett und hebt L. heraus, der sogleich zu brüllen beginnt. “Ich werde ihn duschen”, antwortet Dannenberg, ohne eine dazugehörige Frage über das Geplärre hinweg, schließt mit L. im Arm erneut die Türe hinter sich und dreht von außen den Schlüssel zweimal. Ich kann das Gebrüll noch hören und nippe an dem Glas Milch. Ich darf mich hin und wieder mit der Schüssel waschen, meine Zimmernachbarn durften das nie. Vierzehn andere L. s waren seit Jahresbeginn in diesem Zimmer gewesen.
“Läutet die Glocken von Turm zu Turm! ”, lässt sich das Lied nur noch vage erahnen. “Läutet, dass Funken zu sprühen beginnen, Judas erscheint das Reich zu gewinnen, Sturm Sturm St. . .“
Stille.
Lediglich das Prasseln der Wassertropfen gegen die Fensterscheibe.
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