Submergeris
Schwerelosigkeit umfängt dich.
Du bewegst dich nicht. Du atmest nicht. Die Augen sind geschlossen.
So bleibst du für kurze Zeit. Und dann…
Deine Augen gewöhnen sich nur langsam an die Umgebung. Du hattest nicht mit einer solchen Gegend gerechnet. Ein guter Ort.
Du drehst den Kopf herum. Rot, Blau, Grün, Gelb, Violett, Rosa, Orange, Weiß. Grau. Du weißt nicht, wo du zuerst hinsehen sollst. So viel zu sehen; nicht genug Zeit.
Du willst so viel wie möglich sehen bevor die Zeit um ist. Du hast einen guten Ort ausgesucht.
Du bewegst dich, so weit es dir möglich ist. Deine Kleidung folgt dir nur zögerlich. So viele Farben. Du hattest vergessen, dass es so viele Farben gibt. Für dich gab es nur noch Grau; für lange Zeit war Grau dir genug. Doch nachdem aus Grau Schwarz wurde, hast du aufgegeben.
Manchmal hast du geweint, um durch den Schleier der Tränen hindurch einen Blick auf die Erinnerung an Farben zu werfen. Sie waren blass, in der Dunkelheit brach sich das Licht nicht gut – aber dennoch konntest du die Farben sehen. Doch nachdem die Tränen trockneten, gab es nur noch Grau; gab es nur noch Schwarz.
Doch nun bist du hier. Hier sind Farben. Du bist schwerelos; als würdest du fliegen. Das erste Mal seit langer Zeit lachst du, ein Lachen das zum Himmel emporsteigt. Ein guter Ort.
Und dennoch weißt du, dass du nicht ewig hierbleiben kannst. Du musst gehen. Du hast nicht genug Zeit.
Du betrachtest erneut deine Umgebung, wieder und wieder. Du bekommst nicht genug.
Rot, Blau, Grün, Gelb, Violett, Rosa, Orange, Weiß. Grau. Du magst das Grau nicht. Du hast es hierher gebracht. Aber jetzt ist es egal; du kannst es nicht mehr loswerden. Du hast schließlich die Entscheidung getroffen, dass Grau dir helfen wird. Ein einziges Mal soll Grau dir helfen.
Du hast Grau an diesen bunten Ort gebracht; das tut dir leid. Aber jetzt ist es zu spät.
Du bemerkst es. Du hast nicht mehr genug.
Du verlierst die Farben. Das willst du nicht. Du wolltest sie niemals verlieren. Du willst sie doch nur ein wenig länger behalten… Ein wenig länger.
Rot, Blau, Grün, Gelb, Violett, Rosa, Orange, Weiß. Sie werden grau, wie die Kette an deinem Fuß. Wie der Zement, in dem sie verankert ist. Wie die Trauer, die dich dazu veranlasst hat, dein Ende auf diese Weise zu wählen.
Du schreist auf. Du wolltest nicht einmal aufschreien, das hat dein Körper getan.
Der Schrei wird nicht gehört. Gut. Du wolltest keine Rettung, nur etwas mehr Zeit. Ein bisschen mehr Zeit.
Das Wasser ersetzt die Luft in deinen Lungen. Deine Augen schließen sich; es ist beinahe wie Einschlafen. Es schmerzt etwas mehr, aber das ist schon in Ordnung; denkst du. Du hast lange nicht mehr vor dem Einschlafen so viele Farben gesehen.
Du hattest genug Zeit. Es war ein schönes Ende.
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