Tagebuch einer Verlorenen
28 Mai
Alles ist normal. "Geh jetzt bitte" ist das letzte, was sie zu mir sagte. Also gehe ich. Links, links, rechts und wieder links. Ich gehe in das Haus, das mein Zuhause ist hinein. Ihre Worte schmerzen nicht.
29 Mai
Ihre Worte berühren mich nicht. Ich sollte weinen, aber ich fühle nichts. Eine gähnende Leere. Ich soll gehen, also gehe ich. Ich gehe aus dem Haus hinaus und die Straße entlang. Ich gehe. Irgendwann stehe ich im Wald. Dort wo alles begann. Ich setze mich unter einen Baum, dann eine Stimme "Geh bitte". Also gehe ich. Weiter durch den Wald, über die Brücke, quer durch die Wiese, eine weitere Brücke, ein Feld, eine Straße. Ich gehe. Der Mann mit dem blauen Bart gibt mir ein Amulett. Ich stecke es ein und gehe weiter. Wohin muss ich gehen? Ich weiß es nicht.
30 Mai
Alles ist beim alten, so wie immer. Ich wache auf in der Hängematte in dem Haus am Hafen. Dort wo ich zuhause bin. In meiner Hosentasche sticht mich etwas. Ein kleines Amulett, in Form eines blauen Raben. Ich hänge es um meinen Hals. Sein Pochen beruhigt mich. "Geh bitte" sagt die Stimme. Sie möchte mich nicht haben. Ich soll weg von hier. Wohin, weiß ich nicht. Aber ich gehe. Ich gehe den Hafen entlang, und ein kleiner Mann winkt mir zu. Ich steige in sein blaues Boot. Es scheint zu leuchten. Zusammen segeln wir los. "Wohin gehst du? " fragt der winzige Mann mit den blauen Federn im Haar. "Ich gehe. Sie sagt ich muss gehen. Wohin, weiß ich nicht" sage ich ihm. Der Vogel um meinen Hals pocht. Der Mann steuert das Boot. Weiter raus, weiter raus. Der Mond steht am Himmel. Der Mann mit den Federn im Haar scheint zu glitzern im Mondlicht, wie er auf das Meer blickt. Wenn ich nicht aufpasse, verschwindet er in den Schatten.
31 Mai
Ich wache auf, auf dem Boot das atmet und glitzert. Der kleine Mann mit den Federn im Haar und dem Schatten in seiner Jacke gibt mir eine Feder, seine Feder, sagt er. Ich hänge sie zu dem kleinen, pochenden Vogel um meinen Hals. Er räkelt sich. Die Feder gefällt ihm. "Ich muss gehen" sag ich dem kleinen Mann. Er nickt. "Gut, dann nimm dies. Es wird dir den Weg zeigen". Er gibt mir den Schatten. Der Schatten geht voraus und ich folge ihm. Zusammen gehen wir. "Geh bitte" sagt eine ferne Stimme. Sie wird leiser. Bald bin ich dort wohin ich soll. Der Schatten geht voraus. In der Nacht hüllt mich der Schatten ein und wir verschwinden, nur im Mondlicht glitzern wir.
32 Mai
Alles ist beim gleichen. Der Vogel sitzt auf meiner Schulter und der Schatten geht nun neben mir. Wir kommen zu dem blauen Haus, vor dem der kleine Mann mit Federn in den Haaren steht. Ich gehe hinein. Dort muss ich hin. Ich betrete die kleine Wohnung mit der gelb gestrichenen Küche. Dort steht sie. Sie sieht mich an. Ich bin zerzaust vom Wind. Der Vogel sitzt auf meiner Schulter. Der Schatten steht neben mir. Ihre Augen sagen "Wer bist du? Deine Todesanzeige war vor Tagen in der Zeitung", aber aus ihrem Mund kommen die Worte "Geh jetzt bitte, du gehörst hier nicht hin. "
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