Tagesklinik
Ich starrte an die Decke oder, um genau zu sein, auf die flackernde Einbauleuchte über dem beigen, schlicht im krankenhaus-chic gehaltenen Stuhl schräg gegenüber mir. Sie schien das einzige Indiz dafür zu sein, dass die Zeit noch weiterlief und ich nicht für den Rest der Ewigkeit im Wartebereich sitzen und vergebens darauf hätte hoffen müssen, ein Therapeut oder eine Sozialpädagogin würde im Vorbeigehen endlich meine Anwesenheit zur Kenntnis nehmen und mich zum Gespräch bitten. Das beruhigte mich-damals wie heute. Denn wenn die Zeit stillsteht, kann die Ewigkeit ziemlich lange dauern, und ich würde wahrscheinlich immer noch dort verweilen.
Wobei ich mich jetzt eigentlich nicht aufregen dürfte. Denn es war klar meine Schuld, dass ich gute eineinhalb Stunden zu früh zu meiner Aufnahme kam und somit um Acht Uhr zwanzig wie ein Sternsinger vor den Toren der Station stand (allerdings ohne Verkleidung, und statt Weihrauch brachte ich ein Schreiben meiner Psychiaterin). Warum auch immer hatte ich mir am Donnerstag davor beim Erstgespräch die falsche Uhrzeit gemerkt, und letztendlich führte eins zum anderen (mittlerweile habe ich gelernt, mir Termine immer gleich aufzuschreiben).
Jedenfalls saß ich nun bereits seit einer Stunde im Wartebereich - mittlerweile alleine, denn die Frau am Empfang war vor einer Weile ins Hinterzimmer verschwunden und noch nicht wiedergekommen. Das Gebäude glich einem Bunker der Smartphonephobischen; Mobilfunk war so gut wie gar nicht vorhande, n und es wäre eine Beleidigung aller Internetrouter, das dortige Gäste-WLAN als solches zu bezeichnen. Das Wetter war zu verregnet für einen Spaziergang, und meine Bücher hatte ich zuhause vergessen, also blieb mir faktisch nichts anderes übrig als zu warten und besagte Einbauleuchte wie eine strenge Prüfungsaufsicht zu beobachten.
Und da die Zeit ja nicht zum Stillstand gekommen war, verstrich sie weiter. Irgendwann stand ich auf und stellte mich an die großen Fenster. Ich sah etliche Rettungswägen, welche vom fünften Stock aus klein wie Spielzeugautos wirkten, die Straße entlangbrausen. Der Regen wurde mal stärker, mal seichter; und wenn die Tropfen ans Fenster prasselten und anschließend die Scheibe runterrannen, fuhr ich ihnen mit dem Finger nach - wie damals, als ich klein war. Irgendwann hörte ich schwere Schritte, gefolgt von einem fröhlichen Pfeifen. Ich drehte mich um und sah einen etwas korpulenteren Mann mit Blaumann und Kappe. Er bemerkte mich nicht wirklich; jedenfalls durchschritt er gut gelaunt den Korridor und den Warteraum, wobei ich ihn mit den Augen verfolgte. Plötzlich blieb der Hausmeister stehen und betrachtete die flackernde Einbauleuchte, genau wie ich vorhin. „Geh bitte, die Lampn is ja scho wieda hin“, sagte er im tiefsten Oberösterreichisch, das ich außerhalb meiner Familie je gehört hatte, und ging wieder seines Weges. Ich musste lächeln, denn sowas ähnliches dachte ich mir auch bei meiner letzten Therapiesitzung.
„Geh bitte, ich muss jetzt wirklich in die Tagesklinik"
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