Tanz der Wahrheit
Mein Herz klopft, wie wahnsinnig, ich habe das Gefühl, jeden Moment vor Nervosität zu zerbersten. Und dennoch ist meine Miene wie versteinert. Meine Mundwinkel fühlen sich verkrampft an, von dem Lächeln, das ich aufsetzen muss, obwohl mir innerlich zum Weinen zumute ist. Das hier ist meine Chance, meine allerletzte, ich darf das alles nicht vermasseln. Nicht noch einmal. Auf gar keinen Fall. Alles, wirklich alles, was mir wichtig ist, hängt von diesem einen Augenblick ab. Schon viel zu oft habe ich ihn nicht genutzt, aber jetzt werde ich es schaffen. Ich muss es schaffen. Oh Gott, hier sind viel zu viele Menschen – und alle starren mich an. Ja, alle haben Erwartungen und ich muss sie erfüllen. Aber kann ich das wirklich? Ich weiß es nicht. Jetzt ist es sowieso zu spät, ich kann nichts mehr ändern. Und trotzdem möchte ich in der Zeit zurückreisen und mich mehr bemühen. Ich würde gerne erzählen, dass mich eine Verletzung daran gehindert hat, zu trainieren. Aber das kann ich nicht, denn es ist nicht wahr. Ich will es nicht zugeben, nicht den Grund für meine schlechten Ergebnisse in den letzten Jahren nennen, weil es ganz einfach schmerzt. Denn die bittere Wahrheit ist, dass ich es nicht ernst genommen habe. All das, wofür ich meine ganze Kindheit lang hart gearbeitet habe, all das war mir nicht mehr wichtig. Eiskunstlauf hatte für mich nach und nach den Wert verloren. Ich weiß, dass das eine Schande ist und ich habe das Gefühl vor Scham zu sterben, wann immer ich meiner Trainerin in die Augen sehe. Ich bemühe mich, es wieder gut zu machen, habe seit fast einem Jahr jeden Tag hart trainiert und Nächte lang an meiner Form gearbeitet, um wieder zurückzukommen, an den Ort, der mir so lieb ist. Ich bemühe mich wirklich. Und ich werde es schaffen. Ich weiß, das Risiko ist groß. So einen schweren Sprung habe ich noch nie gewagt – selbst zu meiner besten Zeit habe ich immer davor zurückgescheut. Nicht etwa, weil ich nicht in der Lage dazu gewesen wäre, nein, aber irgendetwas hält mich zurück. Und der Grund dafür ist ganz einfach. Ich habe furchtbare Angst davor, mich zu verletzen, denn mit einem einzigen Sturz könnte alles vorbei sein. Nicht nur meine Karriere, einfach alles.
Egal. Es wird schon klappen, hoffentlich! Noch einmal durchatmen, dann beginnt es. Es wird dunkel – das ist mein Zeichen. Ich steige hinaus auf die Bahn, spüre, wie meine Kufen über das Eis streichen – und plötzlich ist alles weg, die Angst, die Unsicherheit, die Nervosität. Jetzt gibt es nur noch mich und das Eis. Mich und mein Revier. Ich fühle mich geborgen, als würde ich nach einer langen Reise zu Hause angekommen sein. Eine Pirouette, noch eine. In ein paar Minuten, vielleicht auch nur Sekunden, ist die Zeit gekommen. Ich fühle mich leicht, gleich werde ich schweben. Kurz zögere ich, doch dann denke ich an alle, die hinter mir gestanden sind und mit mir auf diesen Augenblick, meinen Augenblick, gewartet haben. Ja, Aufgeben ist keine Option. Und schon fliege ich.
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