Tanzende Drachen im Windvon Anna Rotter
Schreiben ist wie im böigen Wind einen Drachen fliegen zu lassen.
Du musst deinem Drachen vertrauen, dass er von selber ganz hinauf will. Du musst auf einen guten Windstoß warten und dem Drachen im richtigen Moment Leine geben, damit er sich raschelnd entfalten und schnell wie ein Wanderfalke hinauf jagen kann. Mit beiden Händen hältst du ihn noch an den dünnen Schnüren, kontrollierst von ganz weit weg den Flug des Drachen, doch von außen sieht man die Schnur nicht. Sondern nur den Drachen und dich, separiert, und doch spürst du, dieser Faden verbindet dich mit ihm. Um auf den Drachen zu reagieren musst deinen ganzen Körper einsetzen, deine Kraft, deine Ruhe, dein Gleichgewicht; du musst vorsichtig und behutsam die Schnüre bewegen, auch wenn eine kleine Veränderung ihn schon hinabstürzen lassen könnte in die Tiefe, die aus deiner Sicht bloß der Boden ist. Du könntest ihn nicht auffangen, denn du hängst an ihm.
Ohne dich existiert der Drache auch, er ist nur ein bunter Stofffetzen, der nicht fliegen kann. Es braucht Mut und Willenskraft, den Drachen in die Luft zu werfen, sich selber zuzutrauen: ich werde stark genug werfen, und er wird hoch hinauf fliegen. Wenn er dann in die Lüfte steigt, kannst du nicht voraussagen, wie er sich bewegen wird. Er ist bis zu einem gewissen Grad sein eigener Herr. Ein sturer Herr, geschüttelt vom Sturm. Du musst dich auf ihn einlassen. Seinen Drehungen und Wendungen folgen, ihm gleichzeitig aber klar machen, dass er ohne dich gar nicht fliegen könnte. Dass er auf dich hören und dir gehorchen muss. Mit Erfahrung kommt das Wissen: Was ist ein guter Wind, wann kommt er, wie finde ich ihn? Und wenn er kommt, nutze ihn und verschiebe die Möglichkeit nicht, lass sie nicht verstreichen, sondern liebe sie und lass sie leben, lass den Drachen schweben. Manche Menschen werden sich an ihm erfreuen, andere vielleicht den Kopf abwenden von der flatternden Gestalt ganz oben am kreischend blauen Himmel.
Und da fliegt er. Er schwebt. Ganz oben, er erscheint dir klein, die Schnüre sind straff gespannt, er zerrt an seinen Leinen, wohin er bloß will? Er will ausbrechen, losziehen, sich von dir lösen! Denk mal nach. . . Wenn du jetzt loslässt, jetzt nachgibst, ihn jetzt der Natur, der Luft, dem Kosmos, den kritischen Stimmen, übergibst, wird er hinunterstürzen. Kurz den Genuss seiner Freiheit in sich einsaugend, wird er im nächsten Moment schreien, er wird pfeifen, immer schneller wird er dem Erdboden entgegen schießen. Und dann: Bumm. Aber du weißt auch, er hält sowas aus. Du hast ihn aus starkem Material gebaut. Und wenn er doch mal bricht: Bau dir einen neuen. Nach einem Fall darfst du nur nicht aufhören. Dich nicht entmutigen lassen. Niemals aufgeben. Wenn du zu ihm hinüberrennst, ihn aufhebst und voller Tatendrang und Übermut wieder in die Lüfte schießt, dann weißt du, er wird wieder fliegen. Jedoch vielleicht erst beim dritten Versuch.
Reden ist wie Tanzen mit den Lippen.
Jeder hat seinen eigenen Stil und seine ganz eigene Art, sich auszudrücken und doch verstehen wir einander irgendwie. Tanz befreit den Körper, denn jede Bewegungsabfolge ist möglich – anbinden müsste man mich, um mir meine Freiheit im Tanzen zu nehmen.
Zu Beginn lernen wir Grundschritte und im Lauf der Zeit begegnen wir immer neuen Tanzarten. Wir lernen Sprachen, wir lernen sie verstehen, wagen langsam die ersten eigenen Schritte, bis uns der Mut packt und wir frisch befreit einfach drauf los tanzen, nicht mehr strenge Satzformen kopierend, sondern uns trauen, Fuß an Fuß, Arm an Arm, Muskel an Muskel, Wort an Wort, aneinanderzureihen. Neue Welten tun sich auf.
Wenn wir miteinander tanzen wollen, müssen wir uns zuerst aufeinander abstimmen, um in einen gemeinsamen Rhythmus zu kommen. Um einander zu spüren und zu verstehen, müssen wir uns zuerst wahrnehmen:
ich mich
du dich
und ich dich
du mich –
Dann erst können wir gemeinsam tanzen.
Mein flatternder Drache und ich, wir beide tanzen den Tanz des Windspiels. Wir lassen uns treiben, fühlen uns sicher in der Gewalt der Natur. Der Wind fließt – und wir mit ihm. Herbstlich leuchten die Farben, entspringen einer unsichtbaren Quelle, die Sonne scheint noch einmal wärmend auf den bunten Drachen, und auf mich.
Dann – wir sind nicht mehr alleine. Eine Schwalbe hat den Drachen entdeckt, flattert und tanzt neugierig auf ihn zu. Der Drachen tanzt unter der Macht des Windes, der kleine Vogel, ein Punkt am Himmel, mit ihm. Wir waren nie alleine.
Ich spüre, wie noch einmal der Sommer der Fröhlichkeit durch mich strömt. Auf der Wiese unter meinen tänzelnden Füßen stehen Menschen, die ich nicht kenne, Menschen, groß und klein, die auf meinen Drachen zeigen. Sie lachen, und der Wind trägt ihre Freude bis zu meinen Ohren, bis in meine Seele. Mein Drachen schüttelt sich, die Luft ist wild, fast, als wollte er mir etwas sagen.
Ein bunter Stofffetzen am kreischend blauen Himmel.
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