Tapferes Schweinchen
Da steht sie nun, mit ihrem Telefon in der Hand, dass es jeder sehen kann. Ihre Entscheidung ist gefallen. Lange hat sie gelitten, doch heute wird die Welt sie mit neuen Augen sehen.
Der Raum wird vom Mondlicht mit Grautönen und Schatten konturiert. Man vergisst diese unangenehme Kälte durch den wohltuenden Blütenduft. Ihr Handy wird eingeschaltet und eine Livestream Plattform wird geöffnet. Ihr ist an dem heutigen Tag alles egal. Kein Schamgefühl, kein Nervenkitzel, keine Angst. Nichts. Sie ist ein Stück Fleisch auf zwei Beinen, das seine Saftigkeit verloren hat. Außen wie innen, total ausgetrocknet. Ein Stück Fleisch, das man lieber wegwerfen will, als dass man es versucht noch genießbar zu machen. Sie klickt auf „Start“.
*6 neue Zuschauer*
JoGr: Zieh dir was an, wir wollen das nicht sehen!
KingD: Noch fetter unter den Klamotten, als im sonstigen Fusel.
MarieG: Omaunterhose!
Kathi19: Habe schon Bilder gemacht ; ) Die werden in der Schule aufgehängt!
BD: De verdient wieder Schläge, wer is dabei? De hat si eh no nie gwehrt.
KingD: Morgen bereut sie das!
Sie grinst. Das Grinsen wurde zum Lachen und dann zu einem Gelächter.
„Morgen.“, verspottet sie ihn, mit einem Schmunzeln im Gesicht.
Sie stellt die Kamera um und setzt sich in die warme Wanne. Die Wärme prickelt auf ihrer Haut, als ob tausende Ameisen, von den Beinen beginnend, ihren Körper bestiegen. Das wohltuende Gefühl lässt sie fast vergessen, was sie vorhat. Sie holt es raus und zeigt es in die Kamera.
JoGr: Ey Schweinchen, komm nicht auf dumme Ideen XD.
Marie_G: Jonas rede mal nicht so. Sie macht mir Angst.
JoGr: Sie war und wird immer unser fettes Schweinchen bleiben!
Kathi19: Jonas sei still! Siehst du nicht was sie hat?
JoGr: Ihr wisst wie feig sie ist. Sie ist ein besch*ssener Angsthase.
Ein Kribbeln durchströmt von einem Moment auf den anderen ihre Haut. Sie fühlt Wut, doch ihr Gesicht wirkt entspannt. Sie will losschreien, doch sie darf nicht laut sein. Am liebsten möchte sie Jonas die Kehle durchschlitzen. „Doch das tut sie“, sagt sie leise und setzt an.
Ihre Hand auf Brusthöhe, beginnt sie den Schriftzug. Sie sticht in ihre Rechte obere Brust ein und gleitet senkrecht nach unten, bis ein Strich entsteht. Ihr Gesicht und gefühlt ihre ganzen Organe ziehen sich zusammen. Sie kennt bereits das Gefühl von einem Messer in der Haut, nur, dass ihre Oberschenkel darunter litten. Doch dieser Schmerz ist viel intensiver. Blut strömt aus der tiefen Wunde. Eine dunkelrote dickflüssige Konsistenz rinnt aus ihrem Oberkörper hinunter bis in das eingelassene Wasser der Badewanne. Das stark pigmentierte Rot verblasst jedoch in dem Wasser. Sie versucht, sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen. Also grinst sie und macht weiter.
„Noch immer ein Angsthase?“, sind ihre Worte, bevor sie ihren finalen Stich setzt und damit die letzten Bluttröpfchen aus ihrem Körper quellen.
„TAPFERES SCHWEINCHEN“ steht in ihrem blutüberströmten, zerfetzten Oberkörper.
Ihre Augen, offen. Ihre Haut, weiß. Ihr Körper, leer.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX