Teil des Trolley-Problems
Der Zug rattert. Langsam, in der Ferne, aber laut genug.
Die Gleise zittern unter dir, du zitterst mit ihnen.
Die Fesseln schneiden in deine Handgelenke, und das ehemals philosophische Dilemma ist erschreckend real.
Objektiv gesehen ist die Entscheidung einfach. Ein Leben opfern, um fünf zu retten. Oder die Weiche nicht stellen und zusehen, wie man trotzdem verliert. Aber Entscheidungen darf man nicht nach Zahlen treffen. Menschen bluten mit dem Herzen.
Neben dir lacht einer der fünf.
„Also ich lege den Hebel um“, verkündet er. „Besser der eine dort drüben als ich. Das wird man doch wohl noch sagen dürfen.“
Du drehst den Kopf so weit, dass du den anderen auf dem Nebengleis sehen kannst. Er ist anders. Er ist das Opfer, das die Mehrheit wählt.
„Der trägt nichts bei“, meint der Lachende. „Er ist selbst Schuld.“
DU KENNST IHN NICHT, willst du schreien, aber etwas hat dir schon längst die Stimme gestohlen. Die Angst, oder die Worte, die du nicht gesagt hast.
Also blickst du nach vorn. Der Zug kommt näher, immer schneller, unaufhaltsames, unerbittliches Tempo.
Du fragst dich, wer diesmal Gott spielen wird. Den Hebel in der Hand, Leben gegen Leben, die Waage steht gleich.
Es liegt nicht in deiner Hand.
Du wurdest in den fahrenden Zug geboren und hast gehofft, dass er niemals stehen bleibt.
Fünf gegen eins, Mehrheit gegen Minderheit.
Der Zug nimmt Tempo, Tempo, Tempo auf. Und der neben dir lacht immer noch.
Nennt sich den kleinen Mann, der ja nicht anders handeln kann.
Aber er liegt mit dir auf den Gleisen und will nicht wahrhaben, dass er statt des Hebels nur leere Versprechen in den Händen hält.
Die Gleise fangen an zu singen und er dreht sich zu dir, Augen weit aufgerissen, beginnt zu schreien. Es sei alles die Schuld der anderen, des anderen, soll er doch bezahlen.
Es liegt nicht in deiner Hand.
Die Person mit dem Hebel hat niemand gesehen. Vielleicht hat sie sich schon längst entschieden. Du fragst dich, ob die Entscheidung der Weiche nicht zu viel für eine Person ist. Ob sie Opfer oder Täter ist. Man kann nie beides sein.
Fünf gegen eins, dein Leben gegen seins.
Du kannst nicht wegsehen, vom anderen. Er wollte ja auch nie da liegen. Nie sein Leben gegen deines wiegen.
Der andere versucht, sich gegen die Fesseln zu wehren. Es ist aussichtslos, und das Tempo steigt. Panik in seinen Bewegungen, Angst in seinem Blick, der deinen trifft. Als würde er all seine Träume und Hoffnungen nach dir werfen, in Sicherheit vor dem, was er als unvermeidlich sieht. Sein Licht am Ende des Tunnels ist auch nur ein Zug.
Am Ende ist es egal, wen es trifft. Schmerz ist Schmerz und überall gleich.
Du schließt die Augen und hoffst, dass später niemand sagen wird, man hätte es ja nicht wissen können. Dass niemand die Wahrheit drehen wird, bis sie die Form von Fesseln und die Farbe von Blut annimmt. Bittere, nach Eisen schmeckende Lügen.
Alle haben den Zug längst kommen sehen.
Ob auf den Gleisen, Hebel in den Händen oder als Zuschauer, die Schreie hören wollen.
Alle Teil des Trolley-Problems.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:




















Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX