Tempo 0
„Regen, endloser, nicht Regen prasselt auf die Dächer der Stadt. Wassermengen schießen durch die Straßen und nehmen alles mit sich, was auch nur versucht sich im Geringsten in den Weg zu stellen. Immer mehr Wege verwandeln sich in tobende Bäche. Die einst so bunte, beleuchtete Stadt gleicht nun dem Meer weit draußen hinter den Hügeln. Die ersten Strommasten werden umgerissen und versenken den Glauben der Häuser, nach dem Tumult noch zu stehen. Das Rauschen ist mittlerweile so laut, dass es auch die letzte, tickende Standuhr übertönt.
Die Zeit steht still. An den Gesichtern der noch übrig gebliebenen Menschen haftet nicht mehr wie gewohnt ein Ausdruck, den man mit den Worten „Ich arbeite und dafür bin ich hier“ gleichsetzen könnte. Nein, ganz im Gegenteil. Die Aussagekraft ist deutlich gestiegen und Variationen der Angst und Reue spiegeln sich wider. An den zuvor noch geliebten Tanz der Tropfen kann sich keiner mehr erinnern. 888 Sekunden später und die Autobahnen ähneln der Vorstellung eines fünfjährigen Kindes vom roten Meer. Alle Autos stehen, mittlerweile könnte man das immer wieder Aufleuchten der Warnblinkanlagen als neue Zeitmessung betrachten, und verschwinden langsam unter der Wasseroberfläche.“ So lange habe ich die Stadt noch nie beobachtet. Gerade saß ich noch mit gebangtem Blick und verschränkten Beinen vor meiner Lektüre, als es auf einmal hieß: „ALLE RAUS! Lauft zu euren Eltern!“
Eltern…Eltern – so etwas hatte ich schon lange nicht mehr. Ich zwirbele meine Haare zwischen den Fingern hin und her und bekomme eine richtige Mähne. Wie spät ist es eigentlich? Lange könnte ich hier oben nicht mehr bleiben.
Früher dachte ich, ich kenne die Schreie der Menschen. Herr Baldrian schreit immer: „Schleich dich zum Teufel!“, wenn die Nachbarkatze mal wieder in die Backstube tapst und die Lisa schreit immer wenn ihr beim Malen auf die Staffelei eines der Wassergläser herunterfällt. Beim letzten Mal, als ich von der Straße aus durch das Fenster lugte, war es das blaue Glas, welches ihrer Hand so elegant entglitt. Ihr Gemälde hat zuvor ein Formel 1 Rennen abgebildet… schön ist sowas, so schnell, raaaaaaaasend schnell.
Verwunderlich, wir wollen immer, dass etwas fertig ist, abgeschlossen, vorbei. Nur selten brechen wir aus, versuchen uns dem Lauf der Zeit zu entziehen. Bleiben stehen, schauen zurück und genießen den Blick auf das Unvollendete. Erst jetzt bleiben Menschen stehen, küssen sich, drehen sich um, als wollten sie die Stadt vor der Flut noch einmal sehen.
Der Boden unter meinen Füßen bebt. Ich dachte, das Tempo der Stadt hat sich verändert. Aber auch so ein Ereignis beeinflusst die Zeit nicht. Die Glocke des Turms beginnt kräftig zu läuten und endlich war ich von all dem Geschrei befreit. Nicht einmal meine eigene Stimme dringt noch zu mir durch. Die Begriffe Zeit, Geschwindigkeit und Tempo haben ihre Relevanz verloren, wie die Häuser ihren Halt und die Bäume Ihre Wurzeln. Alles steht still, nicht alles, nur das ewige Tempo der Menschen.
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