Tempo des Erwachsenwerdens
Hallo liebe Leserinnen und Leser,
heute schreibe ich über etwas, das mich in letzter Zeit immer wieder beschäftigt – das Tempo, mit dem meine Geschwister größer werden und wie schnell sich unser gemeinsames Leben verändert.
Manchmal kommt es mir vor, als hätte jemand den Zeiger unserer Familienuhr auf Vorspulen gestellt. Ich bin achtzehn und merke plötzlich, wie schnell alles geht. Früher war ich einfach die große Schwester, die allen vorauslief. Heute schaue ich meinen Geschwistern zu, wie sie mich in ihrem eigenen Tempo einholen, Schritt für Schritt.
Sofija ist vierzehn und hat plötzlich diese Mischung aus Selbstbewusstsein und Unsicherheit, die ich nur zu gut kenne. Jeden Tag scheint sie ein Stück weiter zu springen. Sie probiert neue Frisuren aus, neue Musik, neue Pläne. Sie wechselt ihren Stile rasant, sodass ich kaum mehr hinterherkomme. Isidora, dreizehn, folgt dicht hinter ihr – manchmal leise, manchmal überraschend laut. Sie hat diesen Blick, der sagt: „Ich weiß, wer ich bin“, auch wenn sie es vielleicht noch nicht ganz glaubt. Und dann kommt Slavko, unser Kleiner. Elf Jahre alt, aber mit Energie, die locker für uns alle reicht.
Ich erinnere mich noch an die Tage, an denen unser Wohnzimmer ein Abenteuerspielplatz war. Wir bauten Burgen aus Kissen, ließen Decken zu Höhlen werden. Meine Geschwister waren immer die Kleineren, die ich an die Hand nahm, wenn es zu wild wurde. Ich erinnere mich noch, wie ich ihnen beim Schuhe binden half und wie sie mit Schokoladenflecken im Gesicht durch die Wohnung rannten. Wir haben es geliebt, uns gegenseitig mit Wasserballons im Garten zu jagen. Damals schien ein Sommer unendlich, ein Nachmittag wie ein ganzes Leben in Zeitlupe.
Heute verbringen sie ihre Nachmittage mit Hausaufgaben, Chats und Verabredungen. Ich stehe oft vor dem Zimmer und beobachte sie – wie Sofija die Noten auf der Gitarre übt, wie Isidora mit ihren Freundinnen lacht und wie Slavko beim Spielen vergisst, dass die Uhr weiterrennt.
Manchmal will ich Stopp rufen. Nur kurz, damit ich mir merken kann, wie ihre Stimmen heute klingen, wie ihre Gesichter genau jetzt aussehen. Doch das Tempo kennt kein Anhalten. Es treibt uns alle vorwärts, ob wir wollen oder nicht.
Vielleicht ist genau das das Geheimnis des Tempos. Es nimmt uns die Kindheit, aber es schenkt uns neue Version voneinander. Meine Geschwister wachsen – und ich wachse mit.
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