Tempolimit 100
Die Gebäude ziehen an mir vorbei, die Bäume wirken wie grüne Schatten. Ich bin auf der ÜBERHOLSPUR, erster Platz, weit voraus, ein Beispiel, ein Idol. Der Wind fährt mir sanft durchs Haar, selbst der ist nicht schnell genug für mich. Ich rase, schwebe und weiß nicht mal mehr, wo die Bremse ist. Ich bin endlich frei genug, um mir selbst zu Unabhängigkeit zu verhelfen. Mein Kopf dreht sich, doch wohin ich mich auch wende, keiner ist da. Niemand hat es so weit geschafft wie ich und das macht mich endlich glücklich.
Die Reifen quietschen, der Motor surrt, diese Maschine wurde nicht gebaut, um in der Garage zu stehen. Meine Hände schließen sich fest um das Lenkrad. Die Kontrolle ausüben, die Richtung einschlagen und die anderen ausschalten, all diese Möglichkeiten umschlungen von meinen zehn Fingern. Den Rückspiegel habe ich zugeklebt, es interessiert mich nicht, was hinter mir liegt. Der Gurt strafft sich, drückt mich mehr in den Sitz, doch auch die letzten Fesseln werde ich lösen. Denn ich bin besser, schneller und DA. Aus dem Radio kommt ein Knistern, die Wellen erreichen mich nicht mehr. Ich drehe den Lautstärkeregler, Triumphmusik muss schallend erklingen. Ich verliere mich in den Tönen und eine Träne löst sich aus meinem Augenwinkel. Die anderen Sitze habe ich ausgebaut, sie nehmen Platz ein, den ich nicht hergeben möchte. Meiner fühlt sich richtig an, das Polster wie eine zweite Haut, die Kopflehne berührt fast die Autodecke. Ich strecke mich stolz nach oben, man soll mich ja sehen.
Der Himmel um mich herum verändert sich, wird blau, grau und schwarz. An guten Tagen ist er rosa, aber wer braucht sowas noch. Die Welt zieht an mir vorbei, ich drossle die Geschwindigkeit nicht, denn ich verdiene diese Erfahrung. Die Reifen scheinen nicht mehr rund zu sein, sie holpern und sperren. Entschlossen setze ich auch den zweiten Fuß aufs Gaspedal. Ich lasse mich JETZT NICHT aufhalten. Gesichter suchen mich in meinen Gedanken heim, die Züge verschwimmen, am Ende sieht doch jeder gleich aus. Plötzlich gleitet das Lenkrad durch mich hindurch, ich kann es nicht mehr greifen. Die Kontrolle obliegt dem Gas. Es scheint nicht auf mich zu reagieren, es soll mir gehorchen. Ich kann ihm geben und nehmen, was es braucht. Vor mir bewegt sich was, ich gedachte, jedes Leben hinter mir gelassen zu haben. Ich suche die Bremse, doch kann sie nicht finden. Der Wagen scheint ein Eigenleben zu führen. Ich drehe mich, falle und fahre, ohne etwas dagegen tun zu können – in der Bewegungslosigkeit gefangen, entgleitet mir die Freiheit.
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