The Last Train Home
Weißt du noch, Bruder, als wir uns das letzte Mal sahen? Es war in dem Zug nach Hause gewesen. Ich erinnere mich noch, dass du mir zugewunken hast, als du einige Stationen vorher ausgestiegen warst, um deinen Freund zu besuchen. Das letzte, was ich von dir sah, war dein Rücken, als du dich von mir abgewandt hattest und zur Tür hinausgingst und mich allein inmitten der anderen Fahrgäste hast sitzen lassen.
Der Grund für unsere Auseinandersetzung war unsere Familie gewesen. Irgendwie war sie der Auslöser aller Streite gewesen, nicht wahr? Wir hatten telefoniert, und ich hatte dir vorgeworfen, was für ein kaltes Herz du doch hattest. Aber wie hattest du dich auch so verhalten können? Wie konntest du uns zurücklassen? Waren wir zu aufdringlich gewesen? Das tut mir leid. Ich weiß, dass meine Persönlichkeit nicht die beste ist. Aber weißt du. . . zu diesem Zeitpunkt sprach ich nicht nur für mich. Ich sprach für die Person, der du den Kontakt zu dir verweigert hast. Ist dein Leben jetzt besser als vorher, bevor du uns die kalte Schulter gezeigt hattest?
Lange Zeit hatte ich um dich geweint. Du fehlst mir, das verleugne ich nicht. Du fehlst mir mehr als zunächst erwartet. Jahre lang gab ich mir selbst die Schuld an dem ganzen Chaos. Ich degradierte alles an mir, was nicht dir entsprach - und, nun ja, das war ja so gut wie alles an mir. Aussehen, Talente, Fähigkeiten, Interessen, nichts von mir ähnelte dir, und das nahm mir Tag für Tag meinen Mut. Du wurdest zum Abbild der Perfektion für mich, und leider konnte ich an dieses nicht herankommen. Du warst zu weit entfernt, als dass ich dich je hätte erreichen können.
In dieser Zeit hatte ich eine tiefsitzende Angst entwickelt. Ich hatte Angst vor Menschen. Vor ihren Reaktionen auf mich. Auf alles an mir. Immer wenn ich zu Leuten sprach, fragte ich mich, wie du gesprochen hättest, wie sie stattdessen auf dich reagiert hätten, ob sie dich lieber als mich gehabt hätten. Du warst schon immer beliebt gewesen, warst mit den guten Genen der Familie gesegnet, ordentlich, klug und hast immer gut auf dich selbst geachtet. Du wusstest, wie man sich selbst inszeniert, wie man mit Menschen umgehen musste, welche Worte sie dazu bewegen konnten, genau das zu tun, was du von ihnen wolltest. Das wusste ich nicht, und mit der Zeit verlor ich meine Stimme. Warum? Ich kam mir so vor, als würde ich den Leuten nur eine Last sein, die sie mit ihrer Stimme und ihrer bloßen Präsenz belästigte. Du warst alles, was ich nicht war, aber unbedingt sein wollte. Du hattest alles, was ich nicht hatte, aber unbedingt haben wollte. Es tut mir leid, dass ich nicht an deine Erwartungen herankommen konnte.
Aber so sehr ich diesen einen Tag vor langer Zeit auch bedauere, ich werde dir niemals recht geben, Bruder. Diesmal hast du kein recht. Dieses eine Mal bist du derjenige, der falsch liegt, und dieses eine Mal bin ich diejenige, die gewinnen wird.
Siehst du den Zug dort, Bruder? Es ist derselbe wie damals, aber heute werde ich als erste aussteigen.
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