Titellos
Um 7. 49 wurde es draußen hell. Die Sonne schien rötlich durch das angeschlagene Fenster auf das bleiche, müde Gesicht. Langsam öffneten sich seine Augen. Seine hellblauen, eisigen Augen, die den perfekten Gegensatz zur Sonne darstellten. Er lag unter einer dicken Decke und trug sein bordeauxrotes Nachthemd. Es war sein liebstes. Er streckte sich. Gähnte. Seine Augen brannten noch etwas von der Müdigkeit. Er rieb sie sich. Gähnte. Mit langsamen Bewegungen stützte er sich im Bett auf. Er schaute auf den Wecker. Er stand auf und wankte durch das dekorierte Wohnzimmer, in dem es nach Tanne, Zimt und frisch gebackenen Keksen roch, in die Küche. Er kochte Kaffee. In der Wohnung hörte man nichts. Nichts außer seinen Schritten und hin und wieder das Schlucken, wenn er trank. Die Kinder waren noch bei der Großmutter. Die Frau würde am frühen Abend ankommen. Unter dem Baum standen zahlreiche Geschenke. Er saß im Ohrensessel und trug seinen Morgenmantel und schaute in den Garten. Pulvriger, frisch gefallener Schnee bedeckte den Rasen. Las die Zeitung. Es war 8: 25. Er musste noch in die Stadt.
Um 15: 53 war er wieder in seinem Landhaus. In seiner rechten Hand hielt er eine Schachtel Zigaretten. Er stellte sich auf den Balkon. Holte ein Feuer aus der Hosentasche. Rauchte die Zigarette. Er schnippte sie in den Schnee. Schaute ihr nach. Im Garten. Die Glut erlosch.
Er atmete tief aus.
Um 16: 17 griff er unter die Tanne nach einem Geschenk. Es lag am linken Rand des Geschenkehaufens. In dunkelgrünem, dekorativem Papier. Sein Name. Er wusste genau, was sich da verbarg. Schließlich hatte er es verpackt. Er riss es auf. Ein Strick. Langsam stand er auf. Er nahm einen Stuhl. Stellte sich darauf. Den Strick befestigte er an einem Balken über ihm. Das andere Ende des Stricks band er zu einer Schlaufe. Zitterte. Er führte ihn über seinen Kopf und legte sie um seinen Hals. Zog fest zu. Zitterte. Er fing langsam an auf dem Sessel hin und her zu schwanken. Dann kippte er, der Sessel. Ein lautes, kurzes Knacken.
Um 17: 28 war es dunkel. Die Haustüre öffnete sich. Aufgeregte Kinderstimmen. Die Frau wies sie an, vor dem Wohnzimmer zu warten. Sie trat ein und sah ihren Mann. Einen Moment lang blieb sie stehen. Starr wie tot. Tot wie er. Stille.
Sie verließ das Zimmer. Hals über Kopf.
Frohe Weihnachten.
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