Traditionvon Cornelia Schwarz
1840
„Großvater, was machen wir hier?“, fragt Gustav, während er auf den See schaut. „Wir gehen Angeln und versuchen einen großen Fisch zu erwischen, damit wir mal wieder einen zu Abend essen können“, antwortet der alte Mann mit einem Lächeln, während er einen Wurm auf den Haken hängt. Die Angel besteht nur aus einem Stock, einer Schnur mit einem kleinen selbstgefertigten Haken und einem Regenwurm daran. „Schau mir einfach mal zu und lerne.“ Der Mann wirft die Angelschnur aus und wartet. Gustav, auf einem Grashalm kauend, betrachtet seine Umgebung. Nichts außer Gras, Bäume und der See sind zu sehen. Stille, nur Vogelgezwitscher ist zu hören und das leise Plätschern eines kleinen Baches. Gelangweilt fragt der Junge: „Wieso dauert das so lange?“ „Manchmal muss man halt ein paar Stunden warten, bevor ein Fisch anbeißt“, entgegnet der Großvater geduldig. In diesem Moment beißt ein Fisch an und der Alte zeigt dem Kind, wie es den Fisch an Land ziehen kann. Das Lebewesen landet auf dem Boden und zappelt noch herum, bevor der Mann sein Leben beendet.
1900
„Gustav, wieso hast du mich und dein Enkelkind Karl hierhergefahren?“, fragt die alte Frau ihren Mann, während sie die Hand von Karl hält. „Ich will dem Kleinen, das Angeln beibringen und dachte mir, vielleicht wäre es besser, noch jemanden mitzunehmen“, antwortet der alte Mann. Der kleine Junge starrt auf den See und bemerkt drei Häuser um den See herum verteilt. Die Schönheit der Natur strahlt ihm entgegen. Er bekommt vom Großvater die Angel und genießt die Ruhe an diesem Ort. Nur das Plätschern des kleinen Baches ist zu hören, Vogelgezwitscher und etwas weiter entfernt Hundegebell. Karl nimmt die Angel, die mit einer einfachen Holzspule ausgestattet ist. Gemeinsam werfen sie die Schnur aus. Bald gelingt es ihnen, einen Fisch zu fangen. Der Großvater lobt den Jungen: „Der ist sogar noch größer als der Letzte, den ich gefangen habe.“
1960
„Opa Karl, wohin fahren wir?“, fragt Michael, während er aus dem Fenster des Autos starrt. „Wir gehen Angeln“, antwortet Karl dem Kleinen und stoppt neben dem See. Er schaut sich um und sieht, die Baustellen um das Gewässer und seufzt. „Alles gut?“, erkundigt sich der Kleine. Der alte Mann nickt nur und nimmt die Angel mit Spule und Wickelautomat aus dem Kofferraum und hält die Hand des Jungen. Langsam gehen sie zum Ufer. Während sie sich umsehen, entdecken sie viele Häuser um den See, nur noch ab und zu ist eine Wiesenfläche zu erkennen. Michael riecht Rauch, der aus dem Haus neben ihm kommt. Kein Vogel singt, nur Kindergeschrei, Mopedlärm und Baumaschinen sind zu hören, kein Plätschern eines Baches. Der alte Mann richtet die Angel her und bindet einen Wurm an den Haken. „Okay, du passt jetzt auf, wie man angelt“, erklärt der Opa. Doch lange passiert gar nichts. Anscheinend gibt es nicht mehr so viele Fische.
2020
„Was haben wir denn vor?“, fragt Lukas ein bisschen genervt. „Wir fahren an den See, damit ich dir Angeln beibringen kann“, antwortet Opa Michael. Lukas rollt mit den Augen und murrt: „Aber ich wollte doch so gerne zuhause bleiben.“ Der alte Mann schüttelt den Kopf und hält neben dem See an. Er wirft die Angel, die mit einer Stationärrolle mit Bremse ausgestattet ist, aus und gibt diese dem Buben. Nach einer Weile wird dem Kleinen langweilig und er schaut sich um, dabei bemerkt er wie sein Opa enttäuscht umherblickt. „Opa, was ist los?“, fragt er. Dieser antwortet leise: „Ach, ich muss an früher denken, als ich mit meinem Großvater hier gewesen bin und noch nicht alles verbaut gewesen ist.“
Der Junge sieht seinen Großvater nachdenklich an. Dann blickt er sich ebenfalls um. Er sieht Häuser, Hochhäuser, rauchende Fabriken, Straßen, dröhnende Autos, Lärm, hastende Menschen und das schmutzige Wasser, in dem er angelt. Abgase reizen seine Nase. Kein Schimmer von Natur ist zu sehen. „Opa, das muss damals schön gewesen sein.“ „Ja mein Junge.“ „Wieso gibt es das bei uns nicht mehr?“ Opa seufzt und erwidert: “Es gibt immer mehr Menschen, dann brauchen sie Platz. Jeder will immer besser leben und alles haben. Auf die Natur wird keine Rücksicht genommen. Der Mensch will nur Profit machen. Es wird gebaut und gebaut, keiner denkt an die Zukunft.“ Ganz in seinen Gedanken versunken, merkt er, dass er etwas an seiner Angel gefangen hat. „Ich habe etwas“, schreit Lukas und zieht aufgeregt an ihr. Sanft lächelnd greift der Opa an den Griff der Angel, um ihm zu helfen. „Langsam, ganz langsam, sonst verlierst du es wieder!“ Vorsichtig ziehen sie den Fang heraus. Eine rostige Dose!
„Opa, werden sich die Menschen jemals ändern? Muss die Natur so zerstört werden? Wird dies jemals aufhören?“, fragt Lukas leise, obwohl er die Antwort bereits kennt.
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