Traumfängerbastelnvon Katharina Huber
Ich war gerade mal vier Jahre alt, als ich verlangte, ich wolle mit dem Tod sprechen. Meine Mama führte mich zu ihm. Der Tod war nett; er sah ein wenig aus wie Onkel Hans.
Ich blickte in seine freundlichen, graublauen Augen unter der schwarzen Wollmütze und erklärte ihm, Oma bräuchte noch mehr Zeit.
»Aber Jo, wie kommst du denn darauf, dass Oma bald. . . dass Oma bald mit mir kommen wird? «, fragte der Tod und seine Stimme kratzte dabei, als hätte er ein wenig heißen Sand gegessen. Das tat die von Onkel Hans auch; ich mochte den Tod irgendwie.
»Oma hat's gesagt. Und schau, Oma muss die Traumsänger noch mit mir basteln. Das macht ihr Spaß«, erklärte ich dem Tod. Damals konnte ich noch kein F aussprechen.
»Oh, ich bin mir sicher, dazu werdet ihr noch Zeit haben«, sagte der Tod freundlich. »Oma wird mir Bescheid geben, wenn sie bereit ist. «
Ich hoffte, dass das nicht allzu bald sein würde. Oma war meine Freundin. Bei ihr gab es immer Gugelhupf mit Staubzucker und Fencheltee und Geschichten über ihre Jugend. Die war sehr lange her – Oma war eigentlich gar nicht meine Oma, sondern meine Uroma. Aber sie mochte es nicht, wenn wir sie so nannten; sie fühlte sich dann zu alt. Was sie wohl auch war. Mama sagte immer, sie habe so viele Jahre auf dem Buckel wie Falten im Gesicht. Und von denen hatte sie viele. Aber es waren nette Falten, die mit ihrem ganzen Gesicht lächelten. Ich hatte Oma wirklich gern. Nur, dass sie mich zwang, Bananen zu essen, fand ich nicht gut.
Der Tod nahm mich mit zu dem alten, rostigen Trampolin, das in unserem Garten stand. Er forderte mich auf, darauf zu springen. »Damit du verstehst, wie es sich anfühlt, bei mir zu sein«, sagte er. „Wie die Sekunden, wenn du hochgeschleudert wirst und dich dann im freien Fall befindest. «
Ich war mir nicht sicher, was er damit meinte. Aber ich sprang auf dem Trampolin. Es machte Spaß; langsam verstand ich, wieso so viele Leute tot waren.
Im Leben konnte Oma nicht mehr Trampolin springen. Ihr Kreuz tat ihr zu weh. Bestimmt fehlte ihr das. Aber ihr würde noch mehr fehlen, wenn sie nur noch Trampolin springen könnte. Das sagte ich dem Tod auch. Eine Weile sagte er nichts mehr und kratzte sich am Kinn, wie Papa es auch tat, wenn er wieder einen stacheligen Bart hatte. Der Tod hatte aber keinen Bart.
»Weißt du, mit dem Leben kenne ich mich nicht so aus«, sagte er schließlich. Das tat mir furchtbar leid für ihn. Er verpasste etwas.
Also nahm ich den Tod bei der Hand und führte ihn zum Leben, zu all den leuchtenden Gesichtern mit den kälteroten Wangen am Christkindlmarkt in unserem Dorf. Ich liebte den Weihnachtsmarkt. Normalerweise waren die Dorfhäuser ziemlich langweilig, aber im Dezember hingen leuchtende Sterne über den Straßen, es duftete nach Waffeln mit geschmolzener Schokolade und alle lächelten. »Schön, oder? «, fragte ich und lächelte auch.
Der Tod schwieg lange und blickte mich aus traurigen Augen an. »Ja, schön«, sagte er schließlich.
Dann kaufte er mir ein Lebkuchenpferd mit Augen aus blauem Zuckerguss.
Zuhause saß ich auf Omas Schoß und trank Fencheltee aus einer kürbisorangenen Tasse, während sie an unseren Traumfängern weiterbastelte. Hin und wieder durfte ich vorsichtig Holzperlen auffädeln, aber den Großteil machte Oma, und sie machte es gut. Früher, so erzählte sie mir, war sie Werklehrerin in der Volksschule des Dorfes gewesen. Bis die Kinder ihr zu anstrengend geworden waren. Dann hatte sie lieber das kleine Bastelwarengeschäft übernommen, das heute eine Bäckerei war. Ich konnte mir richtig gut vorstellen, wie sie mit ihrem geflochtenen silberweißen Haar hinter dem Tresen saß und Tee trank, bis die Türglocke ertönte und sie den neuen Kunden anlächelte, mit weniger Falten im Gesicht als heute. Leider war sie schon in Pension gegangen, bevor ich auf die Welt gekommen war. Dafür hatten wir so mehr Zeit zusammen. Ich war zwar ein Kind, aber sie fand mich nicht so anstrengend wie ihre Schüler früher. Sie sagte immer, ich sei ihr Lieblingsurenkelkind. Was eigentlich keine große Behauptung war, schließlich war ich ihr einziges. Aber ich freute mich trotzdem.
Am Abend hängte ich einen fertigen Traumfänger über mein Bett. Es war ein schönes Stück geworden; weiß, mit silbernen Federn durchzogen und mit langen weißen Federn und Holzperlen als Schmuck. Oma hatte einen weiteren gemacht, der genau aussah wie meiner, und ihn heute Nachmittag über ihr Bett gehängt. »Damit wir gemeinsam träumen können«, hatte sie gesagt. Das fand ich schön. Als ich an diesem Tag das Licht abdrehte und mich in meinen Deckenberg wickelte, fühlte ich mich geborgen.
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Ich behauptete bis zur Volksschule hin stolz, ich hätte absolut keine Angst vor dem Sterben, denn der Tod wäre mein Freund. Nicht, dass es irgendjemanden interessierte; nur meine Freundin Marie machte große Augen und sagte: „Boah. Kann er auch mein Freund sein? "
In der zweiten Klasse kam schließlich der Moment, der mir meine Illusion zerstörte. Eines Morgens kam Marie in die Klasse und etwas in ihrem Blick war anders. Wissender. Als wüsste sie etwas, das ich nicht wusste. »Was ist los? «, fragte ich, aber sie wollte es mir nicht sagen. Es sei nicht für zu junge Ohren bestimmt, meinte sie. Das nervte mich schrecklich. Marie war nur zwei Monate älter als ich und bildete sich schon etwas darauf ein. Also beschloss ich, sie zu ignorieren.
Noch vor der ersten Pause hatte ich sie damit so weit. Marie hasste es, ignoriert zu werden. »Na gut«, flüsterte sie während der Mathestunde und beugte sich weiter zu mir, »ich sage es dir. Aber du darfst es nicht weitererzählen, ich will niemandem seine Kindheit zerstören. « Meine Wut von vorhin war vergessen. Aufgeregt wandte ich mich ihr zu und fühlte mich irgendwie erwachsen und geheim, als wäre ich ein Level aufgestiegen. Das hielt allerdings nicht lange an, als Marie zu sprechen begann. »Also«, raunte sie mir zu, »das Christkind gibt es nicht. Und den Nikolaus. Und die Zahnfee. Und deinen Freund, den Tod. « Ich starrte sie aus großen Augen verwundert an. »Aber das kann doch nicht sein«, flüsterte ich zurück. »Wir alle haben den Nikolaus gesehen. Und der Tod war mit mir Trampolinspringen. « »Ja«, erwiderte Marie. »Aber der Nikolaus war eigentlich mein verkleideter Onkel. Ich hab seine Mütze gefunden und dann hat er mir alles gesagt. «
»Ruhe bitte, jetzt ist Mathe dran«, unterbrach die Stimme unserer Lehrerin uns. Ihre strengen blassblauen Augen bohrten sich in meine.
Ich dachte an Onkel Hans und war froh darüber, dass ich schweigen musste.
Nach der Schule klingelte ich an Onkel Hans' Tür. Er öffnete sie und als er mich erkannte, lächelte er. Dann bat er mich herein, aber anstatt hineinzukommen, sah ich ihm direkt in die Augen. »Bist du der Tod? «, fragte ich ihn so ruhig wie möglich. Perplex starrte er mich an und sagte erstmal nichts. Mit der Hand kratzte er sich seinen imaginären Bart.
»Ja«, sagte er schließlich mit einem Seufzen. »Also, nein. Aber der, den du meinst, schon. «
Enttäuschung breitete sich in meinem Bauch aus wie ein Tropfen Tinte in einem Wasserglas. »Und das Christkind gibt es auch nicht? «
Onkel Hans sah aus, als wäre ihm die Konversation sehr unangenehm. Aber gerade war mir das egal.
»Naja«, murmelte Onkel Hans und zerstörte damit meinen letzten Hoffnungskeim, »nein. « »Oh«, sagte ich.
Am nächsten Tag besuchte ich Oma im Altersheim, wo sie inzwischen lebte. Papa und ich hatten einen Gugelhupf gebacken, den ich ihr mitbrachte. Sie freute sich sehr und wir aßen beide ein Stück, bevor ich mich an ihr Bett setzte und ihre inzwischen so zerbrechliche Hand in meine nahm. In den letzten zwei Jahren war Oma merklich gealtert. Viel mehr Falten konnte ich zwar nicht ausmachen und ihr Haar war immer noch schüttern und silbergrau, so wie früher, aber ihre geschickten Finger zitterten jetzt meistens. Vor allem aber war es der Glanz in ihren Augen, der anders war. Was mich früher an einen Sonnenaufgang erinnert hatte, so hell und voller Neubeginn, wirkte jetzt eher wie ein Sonnenuntergang.
»Weißt du was? Ich weiß jetzt, dass es das Christkind nicht gibt«, berichtete ich ihr, denn inzwischen wollte Oma lieber zuhören als selber erzählen. »Ich versteh nicht, wieso man uns alle anlügt. «
»Hach, jaja, ich erinnere mich an diesen Tag«, erwiderte meine Urgroßmutter mit leiser Stimme. Ihre Augen ließ sie geschlossen, während sie sprach. »Ich war auch enttäuscht, aber im Nachhinein verstehe ich es. Habe es auch nicht anders gemacht. « Sie gluckste. »Immerhin ist diese Zeit eine der schönsten überhaupt. «
Ich dachte über ihre Worte nach, war mir aber nicht sicher, ob ich sie wirklich verstand. Als ich jedoch weiter nachfragen wollte, bemerkte ich ihren ruhigen, tiefen Atem. Sie war eingeschlafen. Ich blickte zu dem Traumfänger, den sie auch hier über ihr Bett gehängt hatte, und machte mich auf den Heimweg. Vielleicht könnte ich noch ein bisschen mit ihr träumen.
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Ein paar Jahre später wachte ich an einem kalten Wintermorgen auf, der sich anfühlte wie jeder andere, mit dem Geruch nach Schnee durch das Fenster und den Eismalereien daran. Bis ich erfuhr, dass sie nicht mit mir aufgewacht war. Sie würde auch nicht mehr aufwachen.
Oma war mitten in ihrem neunundneunzigsten Lebensjahr gewesen, deshalb kam es nicht überraschend. Aber die Nachricht traf mich trotzdem wie eine unerwartete Ladung Schnee ins Gesicht, und ich fühlte mich danach ähnlich taub, nur von innen. Ich wollte nicht weinen oder schreien. Ich wollte gar nichts. Ich ging einfach meinem normalen Tagesablauf nach, ohne ein Wort zu sprechen. Was sich nicht als schwierig erwies, denn es war Samstag. Zu mittag kochte ich meinen Eltern und mir Tomatensuppe, die ich schweigend und meine Mutter weinend verspeiste. Als Papa mich umarmen wollte, nahm ich meinen tintenblauen Mantel vom Haken und verließ das Haus, ohne irgendjemandem in die Augen zu sehen.
Der Schnee knirschte unter meinen Füßen und der eisige Wind ließ meine Augen brennen. Eine Weile achtete ich nur auf meine Schritte und den Winter. Und darauf, nicht am Altersheim vorbeizugehen.
Was sich als nicht sehr erfolgreich erwies. Ich konnte Gedanken, die ich gerne nicht hätte, nicht einfach an einem Ort anketten und sie zurücklassen. Das wurde mir besonders bewusst, als mein Blick das Schild vor mir traf. Das Schild mit der Aufschrift Friedhof.
In dieser Nacht hatte ich Angst, die Augen zu schließen und verschließen und nicht wieder öffnen zu können.
Also lag ich wach und hatte Angst vor dem Tod, Angst davor, dass nach dem Sterben wirklich nichts mehr kam und Oma nicht mehr spürte, dass ich an sie dachte.
Plötzlich fühlte sich meine Decke erdrückend an. Als ich sie zurückschlug, schien der Rest des Schocks mit der Wärme zu verschwinden. Meine Augen begannen zu prickeln. Ich stand auf und öffnete die Tür zum Zimmer meiner Eltern. Beide waren noch wach. »Komm her«, sagte Mama leise und dann weinten wir gemeinsam.
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Der Himmel hat die Farbe von Tinte, die geschrieben werden will, doch davon sieht man hier unten wenig. Die Weihnachtsbeleuchtung über den Straßen taucht die lächelnden Gesichter mit den kälteroten Wangen in ein Licht, das die Atmosphäre noch schöner macht. Ich selbst lächle nicht, obwohl es schön ist, wieder inmitten des Lebens zu sein, mit dem Duft nach Glühwein in der Nase. Noch bin ich gedanklich aber zu sehr bei Oma, um den Christkindlmarkt wirklich genießen zu können. Das Begräbnis ist auf eine schmerzhafte Art schön gewesen mit all den Leuten und ihren Geschichten, die uns an mehr und mehr Facetten von Oma erinnert haben. Inzwischen ist dies schon ein paar Tage her. Heute habe ich ihr Grab wieder besucht, um es zu vervollständigen. So schön meine Familie alles auch hergerichtet hat, eine Kleinigkeit hat noch gefehlt. Omas Traumfänger liegt nun geschützt in der winzigen Überdachung, die eigentlich für die Kerzen gedacht war. Als kleiner Schutz über ihren ewigen Schlaf. Bei diesem Gedanken lächle ich doch ein wenig, obwohl mir nicht danach zumute ist.
Dann kaufe ich mir ein Lebkuchenpferd mit Augen aus blauem Zuckerguss.
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