Turmspringenvon Pia Oberbucher
Eigentlich hatte es ihm Spaß gemacht. Eigentlich hatte er es geliebt. Wie er in der Luft lag. Wie er ins kochende Becken glitt. Wie gefühlt all seine Gefäße und Kapillaren aufplatzten. Wie er wiederauftauchte. Wie er bejubelt wurde. Eigentlich hatte er das Turmspringen geliebt.
Alles fing an in einer kleinen Stadt, in einem noch kleineren Hallenbad, wo Chlor und modrige Wände um die Wette stanken. Von der Decke bröckelte schichtenweise Puderzucker auf die Wasseroberfläche des trüben Beckens. Wie ein schönes großes Glas saure Milch, dachte er. Doch er fühlte sich wohl. Das gegorene Wasser auf seiner Haut, die feuchtwarme Luft in seinen Bronchien. Und am liebsten springen. Er liebte es den Boden unter den Füßen zu verlieren, er liebte es, sich ins kalte Wasser zu werfen. Und er konnte es gut.
Alles ging weiter in einer größeren Stadt, in einem größeren Hallenbad, wo er und die anderen um die Wette sprangen. Von der Decke bröckelte seine Konkurrenz auf die Wasseroberfläche des klaren Beckens. Wie ein schönes großes Glas reiner Erfolg, dachte er. Und er fühlte sich wohl. Das gläserne Wasser auf seiner Haut, der Jubel auf seinem bebenden Trommelfell. Und von ganz oben springen. Er liebte es, den Boden unter den Füßen zu verlieren, er liebte es, sich ins kalte Wasser zu werfen. Und er konnte es besser.
Alles hörte auf in einer noch größeren Stadt, in einem noch größeren Hallenbad, wo betäubende Trillerpfeifen und ein unbändiges Publikum um die Wette lärmten. Von den Sprungtürmen segelten nur mehr die Besten auf die Wasseroberfläche des pazifischen Beckens. Wie ein schöner großer Ozean, dachte er. Und er fühlte sich wohl. Ein Vorwärtssalto, ein Rückwärtssalto, ein Auerbachsalto, ein Fehler. Plötzlich geht alles ganz schnell. Ein kollektiver Schreckschrei klingt im Chor mit seinem lauten Knall ins kühle Nass. Rettungsschwimmer stürzen sich in die glatten Fluten und ziehen ihn raus. „Was ist mit ihm?“ Sie legen ihn vor sich hin und können ihren Augen nicht trauen. „Was ist los? !“ Die Notärztin fällt in Ohnmacht und die Schaulustigen sind viel zu laut leise. „Was ist passiert? ! !“ Ein Sanitäter versucht es mit Worten. „H-H-H-Hals.“ Doch sie bleiben ihm im Hals stecken. Die Köpfe auf den Tribünen strecken sich erwartungsvoll nach unten. „Was ist denn jetzt? !“ Die benommenen Helfer sehen ihn entgeistert an. Er kommt wieder zu Bewusstsein. Er spürt ein ungewohntes Gewicht auf seinem Kopf und seine Ohrläppchen kitzeln seine Schultern. Die Notärztin ist wieder aufgestanden und der Sanitäter probiert es nochmal. „Hals…“ Seine Augen werden groß, er setzt nochmal an. „Hals über Kopf“.
Alles geht Jahre später wieder weiter in der kleinen Stadt, vor dem noch kleineren Hallenbad, wo früher Chlor und modrige Wände um die Wette stanken. Heute ist es geschlossen. Es ist ein kühler, handelsüblicher Tag im Spätherbst und er steht da, wo alles begann. Aber er steht noch, denkt er sich. Den Hals nicht in den Sand stecken. Es ist ein Wunder, haben sie gesagt. Sowas hat noch keiner gesehen, haben sie gesagt. Wehmütig schließt er die Augen. Er hört die Trillerpfeifen, den Jubel und eine verkalkte, salzige Träne rinnt über seine Wange. Er setzt sich seine Mütze auf den Hals und wirkt zufrieden. Hals hoch, denkt er. Und lacht.
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