Umspülung
Noch eine. Noch eine bahnt sich ihren Weg in meine Richtung. Gewinnt an Masse und Geschwindigkeit, baut sich kurz vor mir auf, rollt sich zusammen und bricht einen knappen Meter vor mir unter lautem Getose zusammen. Das helle Grau weicht einem Weiß, das zwischen meinen Füßen zischt, bevor es sich seinem unvermeidbaren Schicksal unterwirft und schlussendlich abdankt - wieder zurück in die endlose Weite.
Irgendwo aus der Ferne weht Musik herüber. Wahrscheinlich schottischer Herkunft. Es ist ein wehmütiges Violinen-Stück, vielleicht ist auch ein Klavier dabei. Der Wind trägt die ächzenden Klänge der Saiten zu mir, sie vermischen sich mit dem stetigen Rauschen, das mich ohne Unterbrechung umgibt. Ich hebe den Blick, recke den Kopf Richtung Himmel. Von dort aus begrüßen mich die ersten Regentropfen, doch das macht nichts. Es nieselt nur. Die hellgraue Wolkendecke ist so dicht, dass der gesamte Himmel genau gleich aussieht. Nirgends lugt die Sonne hervor, nicht einmal ein einziger Strahl ist auszumachen.
Mittlerweile schmücken einzelne, dicke Regentropfen meine Nase und Wimpern. Die Kälte, die von ihnen ausgeht, ist deutlich zu spüren; dort oben, wo sie herkommen, ist es kalt. Noch kälter als jene Kälte, die meine nackten Füße umspült, so wie sie stetig kommt und geht. Die Aufmerksamkeit richtet sich wieder nach unten. Auf den Boden. Den sandigen, nassen Boden, auf dem ich stehe. Ich könnte meine Füße in ihm vergraben, aber dann würde ich die gleichmäßig wiederkehrende Kälte nicht mehr wahrnehmen. Also lasse ich sie draußen. Und da kommt sie auch schon wieder. Diese Kälte, die Millionen von Kilometern gereist ist, Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte lang, um endlich das zu tun, was sie hier alle tun: Brechen. Zischen. Schwinden.
„Gathan-grèin“ heißt das Stück, das man aus der Ferne wahrnehmen kann. Es bedeutet so viel wie „Sonnenstrahlen“. Ich muss lächeln. Denn auch, wenn die Sonne selbst nirgends zu erspähen ist und das Grau von Himmel und Untergrund mich fast zu verschlucken scheint, ist mir trotzdem nicht kalt und ich fühle mich weder einsam noch verloren in dieser unendlich großen, weiten Welt, die sich vor mir auftut.
Denn mir ist bewusst, das jetzt nur eines zählt. Und das ist dieser Moment. Genau jetzt. Der Blick hinaus, auf das weite endlos scheinende, wilde, tobende und doch so faszinierende, beruhigende Meer. Der Geruch, den es mit sich bringt, der lebhafte Wind, der mir die Haare zerzaust, der Regen, der mittlerweile wieder schwächer geworden ist und mir die Sicht ein wenig verschleiert, wenn auch nur gerade so viel, dass ich noch alles genau im Blick habe und dabei aber trotzdem eine mystische Atmosphäre entsteht. Die nächste Welle, die sich anbahnt und direkt vor meinen Füßen wieder bricht. All das ist für immer. Für immer wird es genau so weitergehen. Die Wellen werden kommen und gehen, das Meer wird weiterhin standhaft bleiben. Aber auch das hier wird für immer bleiben – als meine Erinnerung.
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