Unbewusst
(Ein frecher Frühlingssonnenstrahl blitzte durch die noch dichte Wolkendecke und brach sich in ihren schokoladenbraunen Augen, während Dorothy hastigen Schrittes Anna entgegeneilte. )
[Da war es wieder, dieses Rauschen. Jene furchtbar leisen Räume, welche der junge Hausherr bereits vor Tagen verlassen hatte, hinter verschlossenen Fensterläden und schweren Samtvorhängen, durchzog es einem Windhauch ähnlich. Verwaschenes Flüstern, als würde mit vorgehaltener Hand getuschelt. Es war wahnsinnstreibend, noch viel schlimmer als die Stille, denn die war wenigstens durchdringbar. Jetzt noch nicht, aber es würde nicht mehr lang brauchen, bis sie genug Kraft aufbrachte, sich ihr zu widersetzen.
Doch momentan lag es auf ihr wie ein tonnenschwerer Fels. Schien sie zu erdrücken. Die letzte Luft aus den erschöpften Lungen zu pressen. Und gerade als es Schluss zu sein schien – aus und vorbei für immer -, spürte die junge Dame erneut diesen freien Fall. Sauste weiter in die Tiefe.
Dabei wäre es denkbar gewesen, dass sie bereits ganz unten angekommen war. Wieder umschloss sie pure Dunkelheit. Lichtloseste Finsternis. Angst. ]
{Der Anblick war um ein Vielfaches schrecklicher geworden als erwartet. Die früher in grellem und kraftvollem Rot glänzenden, wild gelockten Haare hingen schlaff und farblos über die mageren Schultern. Als wäre es nur angedeutet, so leicht hob und senkte sich der Brustkorb, dessen Rippen unter der kalkweißen Haut hervorstachen.
Das Gedächtnis des Studenten war messerscharf, er hätte jedes einzelne Wort zitieren können, das der Patientin beim Erzählen ihrer Erinnerungen über die Lippen gekommen war. Schon länger hatten sich Besserungen erkennen lassen. Wo war ihm bloß dieser unverzeihliche Fehler unterlaufen? }
[Plötzlich durchfuhr es sie wie Strom bei einem Blitzschlag. Da gab es etwas anderes. Etwas Neues. Hier war Emotion. Sie hatte jemanden wiedergefunden. Einen treuen Begleiter der Vergangenheit: Gefühle.
Mit einem Mal der nächste Schockstoß: Vergangenheit – das bedeutete, es existierte auch eine Gegenwart. Eine zeitliche Begrenzung. Vielleicht eine Zukunft. ]
{Langsam öffneten sich die nachtblau angelaufenen, eiskalten Lippen wie zu einem Schrei. Keinen Ton hörte er, dafür tat es geradezu weh, den bewusstlosen Körper zu beobachten, wie er sich leidend um Hilfe wand. }
[Bunt ausgemalt hatte sie sich die kommenden Jahre immer. Voller Farbe und Energie. Und exakt ebenjene durchflutete nun ihren Kopf. Synapsen bildeten wieder Brücken zwischen Neuronen, Impulse rasten. Das Gehirn hatte erneut zu arbeiten begonnen. Zu denken. Zu fühlen. Zu entscheiden. In galoppierendem Tempo.
Und urplötzlich erschienen sie ihr endlich vor dem inneren Auge: Momente, die sie durchlebt, aber nicht verarbeitet oder reflektiert hatte. Fehler nie verziehen, Gelerntes angewandt oder sich später daran erinnert hatte. Und trotzdem waren sie nie weggewesen. Immer da, hatten sie Tag und Nacht begleitet und fest gefangen gehalten. Augenblicke. ]
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