Und irgendwann war unsere Zeit dann vorbei
Und irgendwann war unsere Zeit dann vorbei. Die Wangen nass von den kalten Tränen, die vor so kurzer Zeit noch von ihren, vor Zorn verkommenen Augen, hinab zu ihrem Kinn rannen. Sie zogen die salzigen Ränder über ihr ganzes Gesicht, hinterließen weiße Linien, verunstalteten es. Sie war ja so schön gewesen. Nichts im Gegensatz zu der hässlichen Fratze, die nun vor mir lag. Die sich einst so elegant um ihren Körper schmiegenden Flügel, weit gespreizt unter dem zierlichen Körper, man könnte sogar meinen, er wäre schwer wie Blei, was die weißen Federn in den Boden drückte, bis sie mit ihm verschmolzen und abbrachen. Sie neigten sich im abendlichen Wind wie die Wellen der rauen See, an der wir so gern gesessen hatten, schmiegten sich an die hervortretenden Knochen, über die sich ihre schneeweiße Haut spannte. Die blauen Adern, aufgepumpt. Prall, als würden sie in Kürze platzen. Doch Schläge konnte man nicht erkennen. Ihr Herz stand still. Ihr Atem ebenso. Ihre Wirbelsäule, durchgestreckt, die Arme über dem Kopf verschränkt, als wäre sie soeben vom Himmel gefallen, als würde sie nur schlafen. Und so berührte ich ihre durchsichtigen Schläfen, zeichnete die Verzweigungen der Adern mit der Fingerspitze nach, dachte daran, wie sie mich angesehen hatte, wie ihre blauen Augen die meinen trafen und mich bis in nächtliche Stunde nicht loslassen wollten. Wie ihre Lider flatterten, wenn sie mich sah. Wie die Winkel ihres Mundes zuckten, sich zu einem zögernden Lächeln verzogen, wenn ich mit ihr sprach. Ich strich über ihre blauen Lippen. Ihnen entfloss das rubinrote Blut, welches sie für mich am Leben gehalten hatte. Ihre reine Haut wurde immer blasser. Damals hatte sie noch einen gesunden Glanz auf den Wangenknochen getragen, einen rötlichen Schimmer auf den Wangen, blutrote Lippen, nun wichen diese Farben und hinterließen nur tiefschwarze Augenringe und dunkle Flecken. Ihr Brustkorb hob sich nicht mehr bei jedem Atemzug, den sie tat. Ihre Finger zuckten nicht mehr, wenn ich über ihr Haar strich. Sie war kalt. Wie ein Stein. So ließ ich sie zurück. Die, die mir einst so viel bedeutet hatte. Ließ sie wie feinen Sand im Wind verwehen und entfernte mich mit langen Schritten. Zog an der hässlichen Gestalt vorbei, die sie in solch kurzer Zeit geworden war. Vergaß ihr widerwärtiges Antlitz. Jeder stirbt für sich allein.
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