Underdog
Wie wurde man glücklich? Und wann wusste man, dass man diesen Zustand erreicht hatte? Was bewegte die Menschen dazu, nach etwas so Unantastbarem zu streben? Möglicherweise der Sinn des Lebens, der mit dem Glücklichsein einherzugehen schien. Jeder Mensch brauchte doch einen Sinn im Leben, oder?
Ihre Überlegungen überforderten sie. Ihre Gedanken stapelten sich in ihrem Kopf, wie all die Kleidungsstücke, die sie gerade mühelos in ihren kleinen Koffer stopfte. Eines war ihr vollkommen klar: das war nicht der Sinn ihres Lebens. Diese Lebensweise könnte nie der Ursprung ihres Glücks sein.
Sie musterte den Raum, in dem sie den Großteil ihres Lebens verbracht hatte. Ihren Rückzugsort vor all den Enttäuschungen in ihrer Familie, vor all den Brutalitäten und Erniedrigungen ihres Bruders. Ein Gefühl der Leere stieg in ihr auf. Es fiel ihr schwer all das einfach zurückzulassen, auch wenn sie wusste, dass sie nur diese eine Möglichkeit hatte. Sie musste sie einfach nutzen, wenn sie nicht für immer in einem 2000-Personen-Ort am Land wohnen und als Sekretärin oder Fabrikarbeiterin tätig sein wollte. Sie war dennoch nicht sicher, ob sie die richtige Entscheidung traf. Das Leben hier wäre vermutlich sicherer. Ihre Vorstellungskraft produzierte fließbandartig Ausschnitte, die sich in den Fokus ihres inneren Auges drängten. Sie konnte es vor sich sehen: das Leben, wie es hier verlaufen würde, entschiede sie sich zu bleiben. Sie würde weiter in ihrem alten Zimmer wohnen, in der Fabrik arbeiten und einige Jahre lang Tag für Tag rotkarierte Etiketten auf Essiggurkengläser kleben. Sie würde ihre Familie unterstützen, bis sie schließlich einen der Männer aus dem Dorf, der genauso wie sie, sein ganzes Leben in der Marktgemeinde verbracht hätte, heiraten und anschließend ihren Beruf aufgeben würde. Vermutlich hätte er einen, der Definition ihrer Eltern entsprechend, guten Beruf und würde, im Gegensatz zu ihr, möglicherweise etwas erben. Vielleicht etwas Geld, oder gar ein Haus, wo sie dann zwei oder drei Kinder großziehen würden, deren Leben auch bereits vorbestimmt wären.
Sie verschloss den Koffer, hievte ihren Reiserucksack über die Schultern und verließ das Zimmer. Sie lief die wunderschöne, knarrende Wendeltreppe hinunter, dann die Treppe, die zur Haustür führte und schließlich die Einfahrt hinauf, bis zum Eingangstor, wo ihr Vater bereits im Auto wartete. Ihre Mutter, die strikt verweigert hatte mit zum Bahnhof zu fahren, lehnte am Fenster des Beifahrersitzes und führte ein hitziges Gespräch mit ihrem Mann. Mit missbilligendem Blick rückte ihre Mutter zur Seite und ließ sie in das Auto steigen. „Na donn, mochs guad.“, sagte ihre Mutter durch das Fenster. „Moch i, i kumm eich boid amoi besuchen!“, antwortete sie mit hoffnungsvoller Stimme und einem schmalen Lächeln, das ihre Mutter aber nur mäßig erwiderte. Sie war froh, dass ihr Bruder nicht dabei war, um sie zu verabschieden.
Als ihr Vater losfuhr, spürte sie einen Hauch von Freiheit auf sich zukommen.
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