Unendlich viele Gedanken
Der Wolf schlich immer näher, pirschte sich an, duckte sich. Unter ihm hinterließen seine fürchterlichen Pranken tellergroße Abdrücke. Sein Fell war schwarz. Das Einzige, dass ihn in der Dunkelheit verriet, waren seine blutroten Augen. Er blickte auf. Die Sonne war schon untergegangen und das würde, wenn es nach ihm ginge, am besten auch so bleiben. Da war er, der Hirsch. Das goldene Geweih schimmerte im Mondlicht und sein weißes Fell glänzte als er herumwirbelte und panisch mit den Augen rollte. Das große Tier wirkte majestätisch, aber schwach. Es hatte den Wolf entdeckt. Dieser setzte zum Sprung an. Im selben Moment stieg der Hirsch.
Ich wachte mit klopfendem Herzen auf. Nein, ich hatte nicht geträumt. Es waren nur meine Gedanken, die sich in meinen Hinterkopf geschlichen hatten. Dunkle, blutige Gedanken. Stille. Ich hörte nur das leise Klopfen in meinem Brustkorb. Langsam stand ich auf und tapste zitternd ins Schlafzimmer meiner Eltern. Ich kniete mich neben das Bett meiner Mutter und flüsterte ihr zu: „Ich kann nicht weiterschlafen, meine Gedanken…“ Meine Mutter zog mich an sich und ich kuschelte mich an sie, schlief ein.
Donnernd krachten die Hufe des Hirsches auf den Boden. Seine Flanke blutete. Der Wolf lag am Boden. Die Hufe des Hirsches hatten ihn getroffen. Er fühlte sich machtlos. Der Hirsch stolzierte davon. Hinter ihm ging die Sonne auf.
Als ich aufwachte waren meine Eltern nicht im Zimmer. Ich stand auf und stolperte ins Wohnzimmer. Meine Eltern saßen gemeinsam mit meiner kleinen Schwester auf dem Sofa. Ich kuschelte mich zu ihnen und spürte die Wärme in ihren Blicken.
Der Wolf schlich durch den Wald. Sein ganzer Körper schmerzte. Die Sonne machte ihn schwach. Er folgte der Spur des Hirsches. Mühselig schleppte er sich dahin. Dann ging endlich die Sonne unter. Der Wolf stand auf und gewann mit jedem Schritt, den er machte, an Kraft. Erst um Mitternacht entdeckte der Wolf den Hirsch am Rand einer Klippe. Er schlich näher und näher. Kurz vor dem Hirsch machte er halt und trabte leichtfüßig in Halbkreisen um das große Tier herum. Den Rand der Klippe vermied er. Der Hirsch legte die Ohren flach an seinen Kopf. Der Wolf sprang ab, rutschte aus. Der Hirsch wich im letzten Augenblick aus. Das Raubtier schlitterte über den Boden, bis es schließlich über den Abgrund rutschte.
Am Tag machten mir die Gedanken wenig aus. In der Nacht erdrückten sie mich. Trotzdem schlief ich besser als je zuvor. Im Bett meiner Schwester, dicht an sie gekuschelt. Dunkle Gedanken geisterten in meinem Kopf herum, ich nahm sie kaum wahr. Sie würden NIE verschwinden, aber immer harmloser werden, genau wie der Wolf.
Der Hirsch streckte seinen Hals. Der Wolf verbiss sich im schönen Geweih. Der Hirsch schliff das Raubtier über den Rand der Klippe. Dann trat er aus, gegen den Kopf des Wolfes. Ohne den Wolf noch einmal anzusehen, galoppierte er davon. Der Wolf hob den Kopf und heulte wütend die aufgehende Sonne an. Er würde nicht aufgeben. Nie.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX