Unklares Geschehen
„Es ist jetzt ganz wichtig, dass Sie wissen, dass das nicht Ihre Schuld war. Sie hätten das nicht verhindern können.“
Vielleicht denkt er, ich bilde mir ein, wenn ich nicht schief gesungen hätte, wäre da jetzt niemand im Donaukanal. Ich nicke. Es stand eben jemand da. Ich wäre ja fast vorbeigegangen.
Der stand nämlich auf der Brücke, wirklich auf ihr drauf. Am Geländer, er war gerade dabei, sich zu erheben. Ein beeindruckendes Gleichgewicht, äußerlich. Und ich? Zücke natürlich mein Handy, wähle den sozialpsychiatrischen Notdienst. Den bräuchte ich selbst dann vielleicht auch. Man muss warten. Der Freiton ist zu erdrückend.
„Entschuldigung? Haben – haben Sie vor, zu springen?“ Ja, würde ich einer Stimme am anderen Ende der Leitung sagen. Meint der das ernst? Hat er schon einen konkreten Plan? Naja, er ist bereits auf dem Geländer positioniert und wirkt fit in den Sprunggelenken. Er schaut mich nur an, als wollte er mich provozieren. Und ich möchte nicht in der Warteschleife hängenbleiben und öffne stattdessen noch einmal den Mund. Kurzschluss!
„Imagine, there’s no heaven . . . It‘s easy if you try.“ Ich summe verzweifelt die Klavierbegleitung, die Brücke meine Bühne. Und seine: „No hell below us, above us only sky.“ Er hebt die Augenbrauen, fordert mich heraus, seine Stimme raspelt Lennons Zeilen gesangsstundenlos.
Wieder ich, in Großbuchstaben, Betonung auf jeder Silbe, aus vollem Herzen: „Imagine all the people“, auf Abstand zu uns bleiben kurz ein paar Leute stehen, jemand gestikuliert mit einem Handy, „living for today.“ Einer jauchzt herüber, bevor er weitergeht. Der junge Mann lässt sich weiter auf eine Passage ein, die wir mit Lalala interpretieren und wir werden unscheinbar.
Es sind in der Zweisamkeit dann vier Dinge mehr oder weniger auf einmal passiert. Die Behauptung „Nothing to kill or die for“ verlässt meine Lippen. Meine Hand macht dem restlichen Körper voran eine Bewegung vorwärts und meint, den König der Brücke erreichen zu können. Ein Auto biegt mit Blaulicht um das Häusereck, fällt mir mit der Sirene ins Wort, fährt in unsere Richtung. Der junge Mann weicht zurück. Weit! Er weicht.
Die Stimme muss mir versagt sein. Ich kann mich nicht erinnern, ob er noch etwas gesagt hat, ob er vielleicht sogar geschrien hat, ob man am Ende ein Geräusch hören konnte. Ich habe nicht sein Gesicht oder seine Füße, nur noch die schöne Aussicht vor Augen.
„Können Sie dem Kollegen bitte genau nacherzählen, was passiert ist?“
Ich richte mich auf: „Ja, also, ich war am Heimweg, und der stand da, er muss gerade erst hinaufgeklettert sein.“
„Haben Sie mit ihm gesprochen, kannten Sie sich?“
„Nur kurz. Das mit dem Telefondienst hat zu lange gedauert.“ Ich sinke wieder in mich zusammen. „Seine Stimme! Stellen Sie sich vor.“
Ich bekomme noch einmal die Schulter getätschelt. „Nehmen Sie sich ruhig die Zeit. Wissen Sie, ein Passant hat Sie singen gehört.“ You may say, I’m a dreamer. Aus meinen Augen bricht ein eigener Donaukanal hervor.
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