Unschärfe
Und alles beginnt, wie es immer begann.
Aus dem Chaos heraus treten wir einander entgegen. Finden uns wieder. Als hätten wir uns verloren, irgendwann in einem anderen Leben.
Heute aber kennen wir uns nicht. Bedeutet, du bist niemand für mich. Heißt auch, du könntest jeder sein. Bleibst eigenwillig unbestimmt.
Ein paar Schritte noch. Voll Selbstvergessenheit, ohne Bewusstsein dafür, dass wir Menschen sind.
Ich hebe die Hand, du lachst. Wie gern hätten wir uns besser gekannt.
Stattdessen bewegen wir uns innerhalb der üblichen Grenzen: Wir, die Fremden in fremden Welten, Kinder ahnungsloser Helden.
Und es ist derselbe Raum, der uns umgibt, es sind die immer gleichen Wände. Festung? Mikrokosmos. Quantenwelt.
Etwas scheint nach uns zu greifen und wir glauben, allem zu entgleiten.
Trotzdem bewegen wir uns weiter. Rückläufig. Zum Ursprung zurück. Auch so kann es gehen:
Wieder sind wir mittendrinn und wissen nicht, was es ist.
Wir kommen auf einander zu. Jeder Mensch, dem ich bis jetzt begegnet bin, immer warst es du.
Also. Sag mir endlich, wer du bist. Oder wer du sein willst. Für mich.
Freund? Feind? Geist? Jemand, der meine Wunden heilt? Oder hast du sie mir zugefügt?
Hat mich Judas durch dich geküsst? Medea in dir meine Sünden verbüßt?
Bin ich deine Schöpfung, du mein Orient? Hab ich dir Tempel erbaut? Zu dir gebetet, in aller Länder Sprachen? Zu sehr auf deine Sicherheit vertraut?
Bist du Vision? Täter? Mein Fleisch und Blut? Schrödingers Katze, verschollen zwischen Leben und Tod?
Du scheinst sie alle zu sein – jede Version, gleichzeitig.
Ich muss lachen. Vielleicht werde ich verrückt.
Dann formt sich ein neuer Gedanke. Es folgt der Zweifel. Ich will ihn nicht, schieb ihn weg von mir.
Er kommt zurück: Wie oft hab ich dich schon sterben sehen? Bin ich dein Tod, in jedem unserer Leben?
Die Szene entfaltet sich vor mir: Deine Fremdheit, sie hat mich verletzt. Deshalb wollte ich einen Menschen aus dir machen.
Etwas Konkretes im Tausch für die Unendlichkeit, um dich zu finden in der Unschärfe, dem Nebel all der Möglichkeiten.
Jede deiner Versionen mussten darunter leiden.
Vergiftet. Entstellt. Verblendet wie ich war, hab ich dich mit ihnen verloren.
Das Ende aller Zwischenzustände.
Heute soll es anders sein. Ich will dich einmal nur leben sehen. Dich mich überleben sehen.
Fast bleibe ich stehen und weiß, ich muss weiter gehen. Bitte. Immer weiter gehen.
So ist es um uns geschehen.
Wir passieren einander. Nichts ereignet sich.
Trotzdem kenne ich dich besser als in jedem anderen Leben.
Jetzt sind wir Fremde. Ohne feste Form, ohne Gestalt.
Und beinahe ohne irgendwelche Grenzen.
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