Unser letzter Tag
Es ist der letzte Tag zusammen in diesem Raum. Seit 4 Jahren verbringen wir und die anderen 20 Leute jeden Tag miteinander. Wir ärgern uns, wir lachen, wir lernen, wir vergessen. Die anderen reden, doch ich verschweige etwas. Die Angst hat mich immer wieder davor zurückgehalten, das zu sagen, was mir auf der Zunge lag. Und jetzt ist es unser letzter Tag, und du sitzt da, ohne dass ich dir je gestanden habe, wie ich empfinde.
Die Luft ist stickig, alle warten nur auf die Zeugnisse, doch ich wünschte mir, das alles hätte kein Ende. Die Minuten, die Sekunden sollten stehen bleiben oder gar rückwärts laufen, damit diese letzte Stunde nie vergehen würde. Du sitzt da und schaust durch den Raum mit einem Lächeln im Gesicht, das Gletscher schmelzen könnte.
Dein Lächeln war auch das was mich zum ersten Mal in Verführung brachte. Weiße Zähne und Lippen, die man einfach nur küssen will, prägen dein Gesicht. Und deine Augen erst. Sie strahlen wie Sterne, wenn du von etwas begeistert bist. Gestern war das letzte Mal, dass ich sie so leuchten sehen werde.
Es waren nur du und ich eng beieinander sitzend in einem dreckigen Bus, der normalerweise ekelig wäre, aber in dem Moment der romantischste Ort der Welt war. Deine Hände berührten meine leicht , doch das reichte schon, um Blitze enstehen zu lassen. Während ich so rot wie eine Tomate wurde, saßt du nur da mit deinem verdammt süßen Lächeln und erzähltest mit von der Uni, die du besuchen würdest. Die Vorfreude war dir anzumerken. Mein Herz schlug wie wild. Du machst mich so glücklich, wenn du einfach dein unbeschwertes Du bist.
Doch dann traf es mich, als ich merkte, dass ich dich für immer vermissen werde und du mich wahrscheinlich bald vergessen wirst. Dir ist es so leicht gefallen den Studienplatz am anderen Ende der Welt anzunehmen, auch wenn du wusstest, dass ich für immer im Treibsand meines Alltagstrotts am genau gleichen Ort stecken bleiben würde. Und zwar nicht in diesem romatischen Bus, sondern in einem kühlen, uneingerichteten Apartment, alleine und mich nach mehr sehnend.
Im Moment sitze ich aber in diesem Klassenzimmer. Weniger alleine, aber irgendwie schon. Denn das hier ist unser letzter Tag. Ich hatte nie etwas gesagt. Nicht gestern im Bus, nicht am letzten Valentinstag, nicht schon vor vier Jahren, als dein erster Blick mich verzaubert hat. Wir gehen aus der Tür. So nahe, dass die Schmetterlinge in meinem Bauch flattern. Du sagst mir: , , Tschüss. Ich werde dich vermissen"
Soll ich es aussprechen, dir sagen was ich fühle? Doch wenn ich es auspreche und es somit wahr werden lasse, brandmarkt dieser Schmerz der unerfüllten Liebe mein Herz für immer und beschämt mich bei jedem Blick wie ein schlechtes Tattoo. Deswegen schweige ich zuerst und sage dann nur: , , Ich dich auch", und versuche diesen letzten Moment auszukosten. Du und ich, deine Hand die meine streift. Mir bleibt nichts übrig, als zu beten, dass dies der Moment ist, in dem die Unendlichkeit für dich und mich möglich gemacht wird.
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