Unsere Zeit
Das Jahr 2155. Um 11 Uhr morgens, genau eine Stunde vor Mittag, legten die Menschen im Nahen Osten ihre Waffen am 15. März nieder. Zwei Stunden später erreichte diese Neuigkeit die ins Innerste zerrütteten Amerikaner, die sich bis dato in einem schrecklichen Bürgerkrieg befanden. Unverzüglich versammelten sich die fünfzig Rebellionsführer vor dem Weißen Haus und riefen nach dem glänzenden Beispiel der Araber eine neue, vereinte Republik aus. In etwa zur gleichen Zeit an anderem Orte, so gegen Viertel nach Drei, erwachten die maroden Europäischen Nationen aus ihrem Jahrhundertschlaf und ernannten eine gemeinsame Task Force, die sich den Unannehmlichkeiten der Ereignisse annehmen sollte. Ab zehn vor Vier unterzeichneten die zerstrittenen Imperien China und Japan ein epochales Friedensabkommen und die Mongolen vertrugen sich mit den Kasachen, die gerade ihre einhundertfünfjährige Unabhängigkeit von der Russischen Föderation zelebrierten. Die Welle der Veränderung schwappte auch an ozeanisches Ufer, als die Australier um 16: 56 Uhr die um sie erbauten Mauern einrissen und sich aus den Winden ihrer Isolationspolitik befreiten. Kurz vor Mitternacht war ein Großteil des afrikanischen Kontinents über das Ultimatum unterrichtet. Einige Rebellengruppen hatten sich in einem letzten Verzweiflungsakt gegen die Regierungen der Sub-Sahara verbündet und waren von den großen Diktatoren ihrer Zeit auf den letzten Mann abgeschlachtet worden. Aber auch dieses Massaker ging im Tosen der generellen Öffentlichkeit unter.
Fragwürdig in der Anzahl aller sich überschlagenden Ereignisse und unübertroffen in seinem Wirkungsgrad, ging dieser 15. März als Tag der Offenbarung in die späte Geschichtsschreibung ein.
Zum ersten Mal in der Geschichte standen wir vereint, und doch waren wir im Geiste nie weiter voneinander entfernt gewesen. Standen wir doch viel zu weit am Anfang unserer Zivilisation, um das Ende bereits besiegelt zu wissen.
Fürchteten wir nicht alle den Tag des Jüngsten Gerichts?
Es spielte letzten Endes keine Rolle, woran wir glaubten und woran wir zu sein glaubten. In dieser alles verschlingenden Leere galten die großen Gesetze von Zeit und Raum nicht. Die Leere war ein Bruch ohne Neuanfang, ein um seine letzten Atemzüge ringender Planet Erde. Die Ultima Ratio der zutiefst Betrogenen.
Die Frage, warum wir uns genau an diesem 15. März die Hand gaben, muss von zukünftigen Historienschreibern beantwortet werden. Auch mit der Frage nach dem großen Wieso wollten wir uns nicht unnütz aufhalten. Sollten sich doch die allwissenden Weltraumphilosophen damit auseinandersetzen.
Dies ist nicht die Geschichte von all jenen Denkern und Dichtern, die unsere Zeit prägten.
Unsere Zeit.
Zeit war ein Luxus, den wir uns nicht länger leisten konnten. Unsere Zeit war ein bloßer Wimpernschlag, ein Augenblick. Und unsere Geschichte begann am 15. März.
Gezeichnet, die letzten Erdbewohner
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