un. sichtbar
16. 11.
Sie lächelt mir wie immer flüchtig zu, Kopfhörer bereits auf, und steigt ein. Ich setze mich auf meinen üblichen Platz: zwei Reihen hinter sie und auf die andere Seite, sodass ich sie sehe. Ich mag es, sie verstohlen zu beobachten.
In letzter Zeit hat ihre Leistung nachgelassen. Sie gähnt ständig und kann dem Unterricht kaum folgen. Vorgestern, gegen Ende meiner Stunde, ist sie auf dem Tisch eingeschlafen. Eigentlich hatte ich sie wecken wollen, doch dann habe ich es gelassen - irgendwie tut sie mir ja auch leid. . . Vielleicht brauchte sie das. Sollte es wieder passieren, werde ich sie wecken.
Neben mir starrt sie ins Leere. Schon wieder. Ich frage mich, woran sie denkt. An den Berg unerledigter Hausaufgaben? Schule ist echt stressig momentan.
Gute Nacht hat sie mir schon lange nicht mehr gesagt, sie geht erst Stunden nach uns schlafen. Wie sie da tagsüber fit bleibt, ist mir ein Rätsel. Aber sie will zukünftig für sich selbst kochen, gesünder. Sie wird erwachsen…
05. 12.
Ihre Jacken werden dicker und die Hosen weiter, sie verschwindet förmlich darin. Als sie an mir vorbeigeht, hebt sie einen Mundwinkel und steigt ein. Für einen Moment höre ich ihre Musik durch, etwas Lautes, beinahe Schrilles. Eigentlich seltsam, dass wir uns jeden Morgen sehen und trotzdem noch nie geredet haben…
Sie meldet sich kaum noch freiwillig, und wenn ich sie aufrufe, sieht sie mich ahnungslos an. Sie war doch eine gute Schülerin…
"Wir sitzen direkt neben der Heizung und trotzdem ist dir kalt? " - "Mir ist immer kalt", sagt sie und trägt zwei Pullis übereinander.
Sie geht jetzt jeden Tag laufen oder spazieren, trotz der Temperaturen. Ich finde es bewundernswert, wie sie das durchhält - sollte ich vielleicht auch mal machen. Dass ich mitkomme, will sie nicht.
12. 01.
Gestern war sie nicht da und ich sofort schlecht drauf; heute ist sie da und mein Lächeln besonders breit. Ich betrachte sie wieder, von viel zu weit weg. Weiche Haare, den Kopf an die Scheibe gelehnt. Blick nach draußen, nachdenklich wie immer.
Demnächst werden sie Referate halten, heute haben wir die Gruppen festgelegt. Sie ist übriggeblieben, meint aber, das störe sie nicht.
Ich weiß, dass sie das Referat lieber mit mir machen würde, wie üblich eben. Doch ich muss mich auch um andere Freunde kümmern. Ich hoffe, sie versteht das. Als Entschuldigung habe ich ihr Schokolade angeboten, die sie partout nicht annehmen wollte.
Sie will nicht mehr in die Schule, ist gestern den ganzen Tag im Bett geblieben. Krank ist sie nicht. Was soll ich noch tun, außer ihr zu sagen, wie wichtig Noten sind? Faulheit bringt einen nicht weiter!
31. 01.
Sie ist so anders. . .
Sie war seit Tagen nicht mehr in meinem Unterricht, ihr scheint plötzlich alles egal. Ich mache mir Sorgen…
Wir haben uns nicht gestritten, aber wir reden kaum noch. Vielleicht ist es besser so.
Dienstagmorgen, und sie lächelt nicht. Kurzentschlossen setze ich mich nach vorne, nur der Gang trennt uns noch. Sie hebt eine Augenbraue. "Hey“, sage ich vorsichtig.
"Hey. "
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