Urlaubstage
„Was ist schon genug?“, denkt sie und starrt in den wolkenlosen Himmel. „Ist es genug, dass ich das schöne Wetter im Garten genießen kann? Oder ist das nur ausreichend? Wäre es nicht schöner, noch einen kühlen Eistee genießen zu können? Oder ist das schon gierig? Wo verläuft die Grenze? Ist es am Ende nicht alles dasselbe? Genug ist genug, weil manche genauso viel haben, und genug ist ausreichend, weil manche mehr haben, und genug ist gierig, weil manche weniger haben. Soll ich das einfach hinnehmen? Soll ich also dankbar sein, dass ich heute frei habe und Zuhause sein kann? Oder soll ich etwas dagegen unternehmen? Soll ich lieber in der prallen Sonne im Garten arbeiten, damit sich alle Arbeitenden nicht so schlecht fühlen müssen? Aber habe ich dann nicht immer noch mehr als sie? Und habe ich nicht immer noch weniger, als die, die in den Urlaub gefahren sind? Was denn nun? Ist es ausreichend, oder bin ich gierig? Oder haben die einen mehr als genug und die anderen weniger als genug? Habe ich dann genug? Bin ich die Mitte, die alles im Gleichgewicht hält? Oder habe ich schon mehr als genug, weil einen Job habe und den Tag frei, während andere einen Job haben wollen? Bin ich heuchlerisch, wenn ich an meine Kollegen denke, aber nicht an all die Arbeitslosen? Soll ich die anderen einfach ignorieren und den Tag genießen? Oder ist das dann gierig? Warum darf ich nicht gierig sein? Oder ist das mein gutes Recht?“
Unwillig kraust sie die Nase, als sich eine Wolke vor die Sonne schiebt. „Darf ich mich jetzt beschweren? Ist der freie Tag nur noch ausreichend, weil ich ihn nicht vollkommen genießen kann? Oder ist es immer noch genug, weil ich immerhin Zuhause bin? Wer legt fest, was genug ist und was nicht? Warum legen sie es fest? Warum legen sie es so fest? Wie ist ‚so‘? Legen sie es überhaupt fest? Oder geht es darum, einem ein schlechtes Gewissen zu bereiten, wenn man etwas genießen will oder wenn man sich beschweren will? Nein, du darfst es nicht genießen, da draußen in der großen weiten Welt gibt es welche, denen geht es viel schlechter als dir, du hast mehr als genug! Nein, du darfst dich nicht beschweren, da draußen in der großen weiten Welt gibt es welche, denen geht es viel schlechter als dir, du hast doch genug! Was freust du dich über diese mickrige Auszeichnung? Da draußen in der großen weiten Welt gibt es welche, die erreichen viel mehr als du, deine Leistung ist gerade mal ausreichend! Ist es vielleicht eine kapitalistische Verschwörung der allmächtigen Arbeitgeber, um uns arme Lohnsklaven zum Arbeiten zu bewegen?“
Sie runzelt die Stirn und seufzt ärgerlich sie auf. „Genug ist aber genug!“ Und damit dreht sie sich auf ihren Bauch, schließt ihre Augen und schläft friedlich ein.
Wir danken unseren Unterstützern
Mit Unterstützung folgender Wiener Bezirke:
Für Sponsoringanfragen wenden Sie sich bitte an Margit Riepl unter margit.riepl@gmx.at
Wenn Sie "Texte. Preis für junge Literatur" unterstützen möchten, spenden Sie bitte auf folgendes Konto:
Literarische Bühnen Wien, Erste Bank IBAN: AT402011182818710800, SWIFT: GIBAATWWXXX