Vellichor
Ein leises Klingeln erfüllt die Luft, eine Tür fällt geräuschlos ins Schloss. Willkommen, sagt das Eingangsschild, und du willst nie wieder gehen. Im Antiquariat drücken sich die Regale an die Wände, schmiegen sich aneinander und kauern zusammen unter der Decke. Biegen sich fast unter ihrer Bücherlast, fast verblasste Worte, an denen die Geschichte von Jahrtausenden klebt. Die Schritte werden fast unmerklich gedämpft, nicht durch einen Teppich, der Raum selbst bittet um Schweigen.
Zwei Schritte mehr und da erstreckt sich die schriftgebundene Sagenwelt. Herakles kippt fast von dem Brett, unter ihm die falsch eingeordneten Brüder Grimm. Troja liegt in der Ecke, Odysseus taucht ins Tintenmeer.
Vergilbte Seiten, altersgebeugte Bretter, unlesbare Buchrücken.
Was wäre die Welt ohne Erinnerung?
Es heißt, in jeder Geschichte steckt ein wahrer Kern. Wenn du genau hinhörst, kannst du Iphigenie auf Tauris singen hören. An Aulis willst du dich nicht erinnern.
Die Geschichte der Welt wird mit Tinte erzählt. Manchmal auch mit Kinderhänden, die vor Tausenden von Jahren ihre Finger in Farbe tauchten und sie vorsichtig gegen einen Felsen pressten, als wollten sie sagen: Ich war hier. Ich habe geliebt, gelebt. Erinnert euch.
Manche Augenblicke bleiben für immer, weil wir sie nicht loslassen wollen. Wir schreiben sie ab, drucken sie neu, binden sie ein und sortieren sie neben ihre Vorgänger.
Um dich herum ist glasklare Stille.
Der Regen trommelt wütend gegen die Scheiben, aber du hörst ihn nicht, lässt ihn nicht ein. Heute ertrinkst du in Tinte.
Du läufst weiter, tiefer in das Labyrinth aus Worten, atmest die Jahrhunderte ein.
Links von dir lauert MacBeth, daneben kauert Hamlet. Worte, Worte, Worte. Wenn Liebe dich krönen könnte, wärst du längst König.
Nächstes Regal, knarrendes Eichenholz. "Neuerscheinungen", verkündet ein Schild, und der jüngste Band ist älter als du. Du schweifst an ihm vorbei, bis an die hinterste Wand. Dorthin zieht es dich, wie lautloser Sirenengesang, ein Zupfen an deiner Seele, ein gehauchtes Versprechen.
Raues Leder unter deinen Fingern, Seiten so zerbrechlich wie erzwungener Frieden. Worte fliegen an dir vorbei und fallen mit leisem Rascheln an neue Orte.
Vellichor, sagt das Wörterbuch, sei die Wehmut inmitten von altem Papier. In der Zeit verloren zu sein, während sie sich unbarmherzig durch die Seiten frisst. Jede Geschichte endet irgendwann, wenn man keine zweite Auflage findet.
Vellichor, bedeutet zu wissen, dass man ein Sandkorn ist inmitten der Unendlichkeit, eine Aneinanderreihung von Buchstaben angesichts der Geschichte.
Vellichor, das bedeutet in der Ewigkeit zu stehen und selbst zu ihr zu werden, für einen Augenblick. Das Universum blinzelt und das Antiquariat bleibt bestehen. In hundert Jahren gibt es diesen Ort vielleicht noch, dich nicht mehr.
Lass etwas zurück, ein Flüstern zwischen den Buchseiten, bleistiftgebundene Gedanken. Der Klang deines Namens wird verhallen, bis kein Echo ihn mehr einfangen kann. Wehmut flutet dein Herz.
Lass etwas zurück. Einen Händeabdruck, in deiner Lieblingsfarbe. Finger gepresst an etwas, das nicht so vergänglich ist wie Papier. Einen Augenblick, den du mit bloßen Händen zu Ewigkeit formst.
Erinnert euch.
Ich habe geliebt, gelebt.
Ich war hier.
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