VERGISSMEINNICHT
Anfangs war ich nur ein kleiner Spross, mein Zuhause das kleine Gärtchen einer jungen Frau. Sie schenkte mir Leben und liebevoll pflegte sie mich. Ich strahlte meine Dankbarkeit durch die buntesten Blüten, die ich nur entfalten konnte, aus, in der Hoffnung, ihr ebenfalls Freude schenken zu können. Doch die erhielt sie von jemand anderem. Einem jungen Mann. Am Anfang war ich verwirrt. Er begann öfters mein Zuhause zu besuchen, ich verstand nicht wieso. Es waren doch nur wir zwei, die junge Frau und ich, mehr braucht sie doch nicht. Oder gab ich ihr nicht genug? Doch dann erkannte ich, dass der Mann ihr das Beste aller Geschenke vermachte, Liebe. Sie erblühte wie ich Anfang des Jahres. Ihr Strahlen gab mir Kraft, sie bewässerte mich und sang mir vor. Alles war perfekt.
Doch dann kamen die Wolken über ihr Leben. Immer öfters vernahm ich Geschrei im Haus. Schmerzvolles Weinen und gefährliches Gebrüll. Was geschah dort in der Nacht? Jedes Mal stürmte der Mann hinaus und verschwand in die Dunkelheit. Was tat er ihr an? Egal was es war, er hörte auf uns zu besuchen. Plötzlich verschwand die Glücklichkeit der jungen Frau, plötzlich gab es keine Liebe mehr. Nur das Schluchzen im Haus machte mir klar, dass sie noch existierte. Sie vergaß mich. Wenn sie das Haus verließ, würdigte sie mich keines Blickes. Wenn sie nachhause kam, würdigte sie mich keines Blickes. Was hatte ich getan? Ich brauchte sie doch. Meine Blätter begannen zu welken, meine Schönheit schwand. Das Einzige, was mich nährte, waren die Tränen des Himmels. Aber der Himmel weinte zu wenig. Ich brauchte sie. Ich brauchte ihre Wärme und ihre stützenden Fingerspitzen. Doch die junge Frau blieb lieber allein. Aber wieso? Wir beide litten und starben. Ihr Herz war gebrochen und mein Körper zerbrach. Wieso half sie mir nicht? Sie hatte doch die Macht, mein Leiden zu lindern, meine braunen Blätter zu trösten.
Doch dann kam Hoffnung. Ich hörte ihr Lachen wieder und sah, wie ihr das Leben wieder Freude machte. Mich aber sah sie nicht. Ich verkümmerte still in der Mitte ihres Gartens, die Kälte so kalt und der Durst so stark. Gib mir doch Wasser! Ich flehte sie an, doch sie vernahm meine Worte nicht. Nun starb nur noch einer von uns. Ich versuchte an ihrer wiedergefundenen Lebensfreude festzuhalten, doch sie rüttelte mich ab, schenkte mir weiterhin keine Beachtung. Wie denn auch? Aus mir war eine hässliche Blume geworden, mit verwelkten Blüten und zerknitterten Blättern. Wie konnte ich der Frau je wieder Freude schenken?
Der Wind zog an meiner übriggebliebenen Hülle. Mir war das egal. Ich hatte mein Schicksal angenommen. Geregnet hatte es schon lange nicht mehr. Dies war mein Ende, ich spürte es. Benommen nahm ich das Aufgehen der Haustür wahr. Mir war das egal. Die junge Frau lebte wieder, der Zukunftszauber hatte ihre Wunden geheilt. Meine waren tiefer geworden. Sie betrat den Garten, blickte sich um. In ihrer Hand eine grüne Gießkanne. „Lass mich dir helfen, kleine Blume.“
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