Vergissmeinnicht
Die bunten Blätter fallen mir vor die Füße, bilden Meere aus rot und grün. Es ist recht kalt für Anfang Herbst, merke ich, als ich die eisige Luft einatme. Meine Hände schiebe ich in meine Manteltaschen und schleppe mich zu einer naheliegenden Bank. Die knirschenden Geräusche, die meine Schritte verursachen, durchbrechen den ansonsten so stillen Morgen. Ächzend setze ich mich auf die Parkbank, der alte Lack blättert bereits ab.
Ich lief mit flinken, kurzen Beinen durch den grasgrünen Garten, sauste dahin. Drehte mich im Kreis, die Kirschblüten in einem Wirbel über mir. Meine aschblonden Haare waren zerzaust und vom Laufen fühlte ich die Hitze in meinem Gesicht aufsteigen. Bestimmt hatte ich nun rote Apfelbäckchen, wie Mutter sie immer nannte. Doch langsam bemerkte ich etwas. Verzögert spürte ich einen leichten Druck auf meinen Augenliedern, mein Bein zuckte. Ich bin eingeschlafen. Eine Müdigkeit, die mit dem hohen Alter gekommen war. Ich schwelge noch kurz in dieser Erinnerung, bevor ich mich wieder zurücklehne und wegdämmere.
Vater rückte meinen Stuhl zurecht, denn meine Füße baumelten daran herab. Auf dem Tisch, den Mutter so bemüht gedeckt hatte, stand ein Kuchen. Den gab es nur an wichtigen Tagen. Zum Beispiel an Geburtstagen. So ein Tag war heute, verkündeten die sechs halb abgebrannten Kerzen, von verschiedener Größe. Mutter entzündete ein Streichholz und begann zu summen. „Wieso sind die anderen Kinder nicht da?“, flüsterte ich und starrte auf die Tischdecke. „Wir haben sie nicht eingeladen, mein Sohn“, sagte Vater und Mutter schaute betreten zur Seite. Sie schämte sich, das tat sie oft. Ich blinzle die Traurigkeit fort und beginne meine steifen Hände zu kneten. Seufzend ziehe ich an meiner Haube.
Normalerweise sah man mich am Schulhof meist an der Mauer im Schatten einer alten Ulme lehnen, ein Buch in der Hand. Es war klein, der Einband war vom vielen Lesen zerschlissen und die Seiten vergilbt. Die Tinte verblich langsam, doch das störte mich nicht. Ich kannte die Worte bereits, ich hatte sie verinnerlicht. Ein Ball traf mich am Kopf, nichts Neues.
Müde reibe ich mir die Augen. Meine gebrechlichen Knochen schmerzen vor Kälte. Angestrengt denke ich an etwas Wärmendes. Ihr Lächeln. Die schlauen, blauen Augen, mit ihren welterschütternden Fragen, die die Zahnräder in meinem Kopf am Laufen hielten. Die weißen Haare, die nichts von ihrer jugendlichen Schönheit geraubt hatten. Die tiefen Furchen auf ihrer Stirn, die Sorge, waren in diesem Augenblick weg. Ich hatte mich jung in sie verliebt und ich tat es immer aufs Neue, wenn jetzt nur noch in Gedanken. Auch wenn mit ihr ein Teil meines Selbst gestorben war. Als ich auf jener Bank sitze, erkenne ich; Ich hatte immer genug. Genug Liebe, genug um weiter zu machen. Jetzt kann ich loslassen. Eine Träne rollt über meine brennende Wange. Der Schmerz rückt in den Hintergrund und ich schließe meine Augen.
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