Vergänglichkeit
Vergänglichkeit kann in vielen Dingen ihre Form annehmen. Zum Beispiel in den kleinen Dingen, wie die Blumen, die auf deinem Fensterbrett in der Vase langsam verwelken, aber auch in den großen Dingen, wie bei deinem Verwandten, der im Krankenhaus langsam aber sicher eingeht. Du weißt, dass er nur noch ein paar Jahre bei dir ist, du weißt, dass du ihm nicht helfen kannst, aber es wirkt so surreal. Du kannst und willst dir das Ende nicht vorstellen. Nach seiner Diagnose erblickst du, egal wo du hinschaust, nur noch Vergänglichkeit. Du kannst es nicht mehr sehen. Nein, du darfst nicht einmal daran denken. „Genieß die letzten Jahre mit ihm“, sagt deine Mutter. „Vielleicht bringen die Behandlungen doch noch etwas“, sagt dein Vater. Doch du weißt, dass sie dir nur nicht die Wahrheit sagen wollen. Sie haben Angst, dir mit der Wahrheit wehzutun. Du bist genervt. Genervt, dass du ihm nicht helfen kannst. Genervt, dass es ihnen nichts auszumachen scheint. Genervt, dass du scheinbar die Einzige bist, die trauert. Du kannst nur zuschauen. Zuschauen, wie er jedes Mal, wenn du ihn siehst, blasser und blasser wird. Wie er immer schwächer wird. Bis ihn schließlich die Zeit einholt. Du weißt nicht, wann du das letzte Mal bei ihm sitzt. Wann du ihm das letzte Mal von deiner Woche erzählst. Wann du das letzte Mal genervt sein kannst, weil du ihn wieder besuchen musst. Du trauerst, selbst wenn du weißt, dass es nichts bringt. Es bringt nie etwas. „Er hatte ein schönes Leben“, sagt deine Mutter. „Zeit heilt Wunden“, sagt dein Vater. Du denkst nach. Was, wenn dein Vater Recht hat? Dein ganzes Leben heißt es: „Mach schneller, wir können nicht ewig auf dem Spielplatz bleiben.“, „Mach schneller, du musst noch deine Hausaufgaben machen.“, „Mach schneller, sonst kommst du zu spät zur Arbeit.“ Bis du selber in hohem Alter von deinen Enkelkindern umringt auf einem Sessel sitzt und plötzlich über den Stress, das viel zu schnelle Tempo deines Lebens nachdenkst. Du hast so viele schöne Augenblicke verpasst, nur weil du so viel Stress hattest. Du denkst darüber nach, wie anders dein Leben gewesen wäre, hättest du alles in deinem eigenen Tempo gemacht. Lass dir Zeit auf dem Spielplatz. Lass dir Zeit bei den Hausaufgaben. Lass dir Zeit auf dem Weg zur Arbeit. „Aber ich habe keine Zeit.“ Doch, hast du, du nutzt sie nur nicht. Mach es in deinem Tempo.
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