Verlaufenvon Helene Rauch
Dunkle Straßen, fahle Gesichter. Hundert Menschen, tausend Lichter. Graue Tage, schwarze Nächte. Er sitzt am Straßenrand, in einer Ecke. Alleine. Die Menschen hasten vorbei, Hals über Kopf, haben keine Zeit, um ihn zu sehen.
Doch. Sie haben Zeit genug. Aber sie nehmen sie sich nicht. Sie sehen ihn nicht, sie haben es verlernt.
Er hat sich verlaufen. Trotzdem sehen sie ihn nicht. Deshalb sehen sie ihn nicht. Sie sind zu sehr damit beschäftigt, sich nicht selbst zu verlaufen. Sie bleiben, denn wer nicht bleibt, ist nicht mehr da.
Wo wollen sie bleiben?
Er hat sich verlaufen, er findet seinen Weg nicht mehr. Falsch abgebogen, die Abzweigung versäumt, im Kreis gegangen. Kann es nicht mehr rückgängig machen. Weiß nicht wie. Und die, die es wissen, sagen es ihm nicht.
Er hat sich verlaufen, er weiß es.
Eine Frau auf der gegenüberliegenden Straßenseite schimpft ungeduldig in ihr Handy. Es kommt ihm so vor, als würde sie es nicht zum ersten Mal an diesem Tag tun. Sie bleibt stehen und lauscht der Stimme am anderen Ende der Leitung, die so laut schreit, dass er es bis hierher hören kann.
Verlaufen.
Sie haben verlernt, seine Augen zu lesen. Er ist unsichtbar für sie. Luft. Sie sehen ihn, aber sie sehen ihn nicht. Sie hören ihn, aber sie hören ihn nicht. Wenn sie sich oft genug dazu überreden, ihn nicht zu sehen, wissen sie irgendwann nicht mehr, wie es geht.
Und auch er will sie nicht hören, denn ihre Welt ist ihm fremd, seit er den Weg versäumt hat. Ebenso wie seine Welt ihnen fremd ist.
Er hört seinen Gedanken zu. Erinnerungen, Gefühle und Melodien, die er einmal gehört hat, malen ein Bild in seinem Kopf, so facettenreich, wie er es nicht für möglich gehalten hat. Er ist nur noch der Zuschauer, Zuschauer seiner Gedankengänge.
Vielleicht ist sein Geist woanders abgebogen als er, und hier sitzt nur noch eine leere, taube Hülle.
Verlaufen. Verirrt. Verwirrt.
Das Bild in seinem Kopf ist dunkel, genau wie die Stadt, genau wie die Herzen. Wie soll auch Licht zu dem innersten Punkt im Körper gelangen? Nein, sie sind dunkel, er weiß es.
Das „Niewieder“ ist die hässlichste Farbe in seinem Gedankenbild. So hässlich, dass das ganze Bild nichts Schönes mehr an sich hat. Ein bisschen Hilflosigkeit und Angst macht es abwechslungsreich, so wie ein wenig Dunkelblau am Himmel die untergehende Sonne noch heller strahlen lässt. Aber das Niewieder färbt die Sonne aschgrau. Nie wieder wird er lachen können.
Lachen. Nicht so tun als ob man lacht.
Nie wieder wird er glücklich sein.
Glücklich sein. Nicht die Maske mit dem Gesichtsausdruck des Glücks tragen.
Nie wieder wird er Freunde haben.
Freunde. Nicht Feinde, die sich als Freunde kleiden.
Sie mögen Leute wie ihn nicht. Akzeptieren ihn nicht. Verstehen ihn nicht. Ihm ist kalt. Die Frau hat aufgelegt und zieht ihren Mantel wütend enger.
Es stinkt nach Neid und die Luft schmeckt nach Hass. Der Geruch von Egoismus liegt in der Luft. Bemerken sie es überhaupt?
Nein. Manchmal fragt er sich, ob es irgendjemandem auffallen würde, wenn er eines Abends nicht mehr hier sitzen würde. Nicht, dass sie genau ihn vermissen würden. Würde irgendjemandem auffallen, dass etwas anders war? Dass irgendetwas irgendwie irgendwo fehlte? Er weiß es nicht.
Sie hasten vorbei, gefangen in dem, was sie Leben nennen. Jeden Tag.
Sie sehen ihn, jetzt ist er sich sicher. Sie sehen auch, dass er sich verlaufen hat. Sie helfen ihm nicht. Können sie nicht? Sie können. Könnten. Aber sie tun es nicht. Wollen es nicht. Lieber wegschauen. Tun, als ob er nicht da ist.
Nach Hause gehen.
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