Verletzt
Ich stürmte aus der Küche, auf direktem Weg in mein Zimmer. Sobald ich die Tür hinter mir von einem lauten Knall gefolgt geschlossen hatte, strömten die heißen Tränen auch schon über meine Wangen. Alles, was ich in den letzten Monaten in mir eingeschlossen hatte, kam nun zum Vorschein. Warum musste er mich auch nach genau dieser einen Sache fragen? Da ich mir neben dem Studium keine eigene Wohnung leisten konnte und bestimmt kein Geld von meiner Mutter annehmen würde, zog ich mit Eric zusammen. Alles passte perfekt. Bis heute. Mit seiner netten und einfühlsamen Art hatte er meine mühsam aufgebaute Schutzwand langsam, aber doch zum Bröckeln gebracht. Das laute Klopfen holte mich aus meinen Gedanken zurück. „Darf ich bitte reinkommen?“, fragte er mich. Am liebsten wollte ich ihn anschreien, er sollte verdammt nochmal gehen. Aber all das war ja eigentlich nicht seine Schuld, also entschied ich mich stattdessen für: „Geh. Bitte!“ Danach folgte kurze Stille. „Komm schon, Grace! Lass mich mit dir sprechen.“ Kurz darauf öffnete er die Tür einen Spalt weit und sah mich stumm an. Ich musste ein schreckliches Bild abgeben, wie ich hier zusammengerollt und in eine Decke gewickelt dalag, die Augen vom Weinen geschwollen und rot. Zögernd setzte er sich neben mich aufs Bett. „Was war das gerade eben? Was ist mit deinen Eltern los, dass du so reagiert hast, als ich fragte, ob sie die Wohnung mal ansehen kommen wollen?“ Allein der Gedanke daran brachte mich wieder zum Schluchzen. Wie gern ich ihm jetzt alles erzählen würde. Aber das konnte ich nicht. Ich wusste nicht, wie er es auffassen würde, wenn ich ihm erzählen würde, dass es nur noch meine hasserfüllte Mutter gab, die mich immerzu niedermachte und mein Vater, der mich liebte wie ich war und mich um alles in der Welt beschützen wollte, weit unter der Erde begraben lag. Nein, das konnte ich nicht. Noch nicht. Also sagte ich stattdessen: „Alles in Ordnung. Ich bin heute einfach nur müde. Tut mir leid. Um deine Frage zu beantworten: Nein, es wird in nächster Zeit niemand kommen, du musst dich also auf keinen Besuch einstellen.“ „Du bist doch nicht einfach nur müde Grace! Du kannst mir vertrauen. Wirklich!“, versuchte er mich zu überzeugen. „Es tut mir leid. Aber ich kann das nicht“, brachte ich schluchzend hervor. Er schloss mich in seine kräftigen Arme und spendete mir damit Trost, ohne mich zum Reden zu drängen und dafür war ich ihm unendlich dankbar. Und so schlief ich in seiner beschützenden Umarmung ein.
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