Verloren im Wald
Ich ging durch den Wald. Es waren schon ein paar Stunden vergangen und es wurde allmählich spät. Im Mondschein waren nur die Bäume zu sehen, die mir am nächsten waren. Was hinter ihnen lag war, wo das Ende war, oder ob es überhaupt eines gab, war ein Rätsel für mich. Eines, dass ich wahrscheinlich nicht so schnell lösen würde. Ich dachte nach. Kein Ende. Was für ein verwirrendes Konzept. Kein Ende. „Aber alles hat ein Ende“, überlegte ich. Das Leben ist dafür das prominenteste Beispiel, auch wenn es viele Leute bestreiten würden. Ich lachte leise auf. Ein Kreis, kein Anfang, kein Ende. Das war nicht sehr poetisch, dafür aber wahr.
Ich wollte den nächsten Schritt am Weg setzen, da stolperte ich und fiel nieder. Ich konnte mich nur schwer abfangen, so schnell wie alles passierte. Nach kurzem Durchatmen stand ich auf. Mein Mund schmeckte metallisch. Ich hatte mir in die Zunge gebissen. „Auch das noch!“ Ich fluchte leise. „Kein Ende“, sagte ich, „Schmerz hat kein Ende.“ Denn seit es Menschen gibt, gibt es Kriege und Leid. Ich war verbittert und wütend. Vor allem darauf, dass dieser Wald nie aufhören wollte.
Ich rannte los. Unter mir zerbrachen kleine Ästchen, die am Weg lagen. Das Geräusch war das Einzige, was im Wald zu hören war. Aber das stimmte nicht. Die Zikaden waren die ganze Zeit da gewesen, so laut und störend, dass ich sie ausgeblendet hatte. Und wenn ich richtig zuhörte, konnte ich auch etwas im Gebüsch ein Stück vor mir rascheln hören. Ich blieb stehen. Kurz bekam ich es mit der Angst zu tun. Doch dann hörte der Lärm auf und ich sah ein Reh vor mir stehen. Groß und majestätisch, wie auf Zeichnungen. Als es mich sah, rannte es sofort davon. Doch ich blieb stehen, zu gefesselt von der Erkenntnis, die ich gehabt hatte. „Kein Ende. Schmerz, Trauer, Leid. Ja, all das hat kein Ende“, dachte ich. Wie dumm ich doch gewesen war! „Liebe und Wertschätzung und Gemeinschaft! Das hat auch kein Ende. Und vor allem Hoffnung. Die nimmt niemals ein Ende.“
Ich war glücklich, dass ich nun wieder zuversichtlich war. Doch jetzt musste ich schauen, wie ich endlich aus diesem Wald herauskommen würde.
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