Verändernde Nächte
Der Abend des 13. Dezember. Ich wusste schon lange, dass ich bald nicht mehr das einzige Kind der Familie sein würde. Doch in diesem Moment wurde es so klar und real wie nie zuvor. Die Autofahrt zum Krankenhaus hatte etwas Sonderbares an sich. Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Aufregung, Müdigkeit, Erschöpfung? Oder doch Vorfreude, Liebe, Freundschaft? Die Wände des Krankenhauses schimmerten im warmen Licht der aufgehängten Lampen, ich starrte sie an, während wir durch den langen Korridor geführt wurden. Der Untersuchungsraum erschien einladend und einige Augenblicke danach erblickte ich das erste Mal ein Ultraschallbild meines Bruders. Im Moment konnte ich diesem keine große Bedeutung zuordnen, doch nur einen Tag später sollte es mir mehr bedeuten, denn jemals etwas zuvor. Als mein Vater mich an der Hand nahm und aus dem Zimmer, hinaus zum Parkplatz und über die Straße zur Busstation brachte, war ich äußerst empört. Wieso wollte meine Mutter mich in so einem wichtigen Moment nicht dabeihaben. Würde sie das neue Kind etwa mehr lieben als mich? Wenn ich nun auf diesen Moment zurückschaue, ist es vollkommen klar, denn ein Kreissaal ist noch nichts für eine 6-jährige. Im Bus jedoch konnte ich zu diesem Zeitpunkt an nichts anderes denken als an das Bild meines zukünftigen Bruders. Angekommen im Haus meiner Tante ließ mich der Gedanke nicht los. Wer war dieses sonderbare Wesen im Bauch meiner Mutter und plante es meinen Platz einzunehmen? Diese Gedanken schwirrten mir im Kopf, bis ich vor lauter Müdigkeit einschlief. Und obwohl ich solche Eifersucht verspürt hatte, konnte ich nicht abstreiten, dass ich unbedingt wissen wollte, wer die kleine Person, die da geboren wurde, wohl war. Würden wir beste Freunde werden oder würde nichts mehr wie vorher sein? Zu meiner Überraschung traten beide Überlegungen ein, doch sobald ich sein Gesicht das erste Mal sah, wusste ich, dass ich diese Nacht für nichts im Leben eintauschen würde.
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